SPORTINTERNATE IN DER KRITIK

Presseberichte I

 

Quelle: Welt am Sonntag vom 14.01.2001, S. 18
 
 
„Hinz und Kunz verderben Niveau der Sport-Eliteschulen“
Die weltbeste Kanutin, Birgit Fischer, kritisiert das Schul-System, das den deutschen Sport mit neuen Talenten versorgen soll – ihr eigener Sohne ist das beste abschreckende Beispiel (von Martina Goy)

Berlin - Erst kürzlich gab es wieder ein hartes Streitgespräch zwischen Mutter und Sohn. „Wenn du dich nicht mehr anstrengst", hat Birgit Fischer da zu ihrem Sohn Ole, 14, ge­sagt, „musst du von der Schule runter." „Wieso das denn?", hat der Vierzehnjährige kess geantwor­tet, „bei uns wird doch keiner rausgeschmissen. Sonst müsste ja die Hälfte aller Schüler gehen."
Daraufhin hat Birgit Fischer, 38, der Welt erfolgreichste Kanutin, nur noch resigniert mit den Schultern gezuckt. „Wie soll ich weiter argumentieren?", fragt die allein erziehende Mutter, „wenn auf einer angeblichen Eliteschule des Sports Hinz und Kunz - will sagen Freizeitsportler - das Niveau verderben und trotzdem nicht ausgesondert werden? Das war damals bei uns besser gelöst. Leute mit fehlender Leistung mussten die Schule wechseln."
Klare Worte - wie man sie von der siebenmaligen Olympiasie-ge­rin und 27fachen Weltmeis-terin aus dem Ost-Teil Berlins gewöhnt ist. Ihr Problem: Sohn Ole, ein talentierter Nachwuchs-Kanute, besucht in Berlin-Köpenick die Flatow-Oberschule, eine so ge­nannte „sportbetonte Schule".
Das bedeutet in diesem Fall (jedes Bundesland hat eigene Schulgesetze): Wechselmöglichkeit zwischen Realschule und Gymnasium, mindestens sieben Stunden Sport-Unterricht in der Woche plus individuellem Trai­ning, und die Möglichkeit, in der Oberstufe eine Schulzeit-Verlän­gerung in Anspruch zu nehmen. Voraussetzung zur Aufnahme ist die sportliche Empfehlung eines Verbandes oder eines Trainers.
 
Diese spezielle Schulform (bundesweit gibt es davon inzwi­schen 33) gilt als legitime Nach­folge-Einrichtung der einstigen 25 Kaderschmieden der Ex-DDR - seinerzeit unter dem Begriff Kinder- und Jugendsportschulen (KJS) ein Synonym für frühkindli­che sportliche Auslese und elitä­re Ausbildung. Weil aber im wiedervereinten Deutschland und besonders an den 21 sport­betonten Schulen auf dem Boden der ehemaligen DDR sich offen­bar immer weniger Kinder und Jugendliche dem Trainings-Stress einer zeitintensiven Sport- und Schulausbildung unterziehen wollen, wählen mit zunehmen­den Schuljahren viele Schüler den sportbetonten Unterricht wieder ab.
Die Folge für den trainingswil­ligen Rest, so zumindest der Eindruck der im erfolgsorientier­ten Sport-System der Ex-DDR groß gewordenen Birgit Fischer, „ist ein geradezu leistungs- hemmendes Klima. Das sehe ich doch an meinem Sohn".
Ole Fischer, von der Mutter eher behutsam zum Leistungs­sport geführt, scheint Opfer des liberalen deutschen Schulsys­tems zu werden. Der 1,84-m-Schlaks hat zwar jetzt schon Arme mit einer Spannbreite zum Paddeln, die jedes Trai-nerauge zum Leuchten bringen. Doch in Sachen Trainings­eifer lässt sich der Heranwach­sende zurzeit gerne von jenen Mitschülern ablenken und beeinflussen, die Rumlungern im Einkaufs-Zen­trum oder Com­puter-Spiele in ihrer sportfreien Freizeit favorisie­ren. „Das darf nicht sein", sagt die Mutter.
Ein weiteres Problem sind zusätzlich lange Anfahrtswege zwischen Schule Sportstätten, die anders als zu DDR-Zeiten nicht mehr unbedingt eng beieinander liegen. In der Oberschule Flatow ist die Situation sogar so, dass mangels eigener Sportstätten der Schul­sport derzeit auf 14 Trainings­stätten in der Umgebung verteilt werden muss.Das macht den Tagesplan eines zukünftigen Spitzensportlers noch enger. „Und so gut wie meine Mutter werde ich sowie­so nicht", sagt Ole Fischer, und guckt treuherzig zu Trainer Dirk Radde.
„Da sehen Sie unsere Proble­me", sagt der Sportlehrer und Kanu-Trainer in Personalunion - zu DDR-Zeiten selbst ein erfolg­reicher Athlet. „Die Folgen die­ser Fehl-Entwick­lung wird man bei den nächsten Olympischen Spielen bei der Medaillenausbeu­te sehen."
 
Was Radde meint: Da die er­folgreichen Sportler aus der ehemaligen DDR, die auch in Sydney noch den größten Teil der Medaillen gewannen, immer älter werden und ihre Karrieren beenden, muss demnächst der Nachwuchs ran. Der aber lernt sein Handwerk, so die Kritiker, im aufeinandergepfropften West-Ost-System nicht mehr so akribisch wie zu DDR-Zeiten.
Dabei hatten es sich Manfred von Richthofen, Präsident des Deutschen Sport Bundes und seine Mitstreiter nach der Wende so schön vorgestellt: Das Gute des bezwungenen DDR-Systems sollte mit dem Besten aus dem Westen zu einem neuen, effekti­ven Ganzen verknüpft werden.
„Ein schwieriger Akt, auch heute noch", sagt Dr. Otto Hug, Referent für Leistungssport beim DSB. „Schließlich sind damals zwei völlig unterschiedliche Systeme aufeinandergeprallt."
Und nicht nur das. Da die KJS-Schulen wegen ihres Drills und flächendeckenden Dopings einen negativen Ruf hatten, sollte der Neubeginn gerade in den neuen Bundesländern möglichst politisch korrekt sein. Was in Berlin bei­spielsweise bedeutet, dass die drei sportbetonten Schulen Flatow, Werner-Seelenbinder und Coubertin westdeutsche Leiter haben. „Man wollte wohl ganz sicher­gehen", sagt Gert Sunkel, Direktor der Flatow-Oberschule, dass die alten Strukturen nicht wie­der aufleben."
 
In diesem Jahr besuchen 735 Schüler die Flatow Oberschule in Berlin-Köpenick - ein ehemaliges Partei-Schulungszentrum inmit­ten eines Naturschutzgebietes, das trotz Innenrenovierung seinen Ost-Mief nicht losgewor­den ist. Daran ändern auch die frisch getünchten langen Flure, die die Schüler liebevoll mit selbst erstellten Kunstwerken geschmückt haben, nicht viel. Ein Blick in Haus drei, das Inter­nat für die auswärtigen jüngeren Schüler, zeigt, warum es in die­sem Teil Berlins so wenig Schüler aus den alten Bundesländern gibt: Ein Waschbecken pro Zim­mer, das sich jeweils zwei Kinder teilen, die Toiletten ein Stock­werk tiefer - Verwöhn-Standard für West-Kids ist das nicht. Dafür sind die Preise human: 320 Mark kostet so ein Zimmer pro Person und Verpflegung im Monat. „Wir sind ausgebucht", sagt Sunkel stolz.
Gerade das ist es jedoch, was Birgit Fischer kritisiert. Da die Schule kostendeckend arbeiten muss, wird jeder halbwegs sport­liche Schüler aufgenommen. „Wenn man das akzeptieren will", sagt die Kanutin, „sollten die Politiker nicht den Mund so voll nehmen, und mehr Medail­len bei Olympia fordern.«
 
 
 
"Bis Peking wird es nicht mehr reichen"
Die Spitzenathletin Birgit Fischer über Sportinternate
 
Leipzig - Birgit Fischer hat nur drei Tage nach dem Ende der Spiele in Athen das deutsche Sportsystem aufs Schärfste kritisiert.
 
Nach Ansicht der achtmaligen Kanu-Olympiasiegerin sind die Verwässerung des Leistungsgedankens an Sportschulen und schlechte Betreuung in den Vereinen Ursachen für unzureichende Leistungen.
 
"Sie rauchen und kiffen"
 
"In der DDR flog der runter, der nichts draufhatte. Das war konsequent. Und heute? Da sind in einer Klasse höchstens zehn Prozent Leistungssportler", sagte die 42-jährige Fischer der "Sport Bild" zum Thema Sportschulen.
 
"Mein Sohn war auf einer solchen Eliteschule des Sports. Die stehen auf dem Schulhof, rauchen und kiffen. Die Nicht-Leistungssportler ziehen die anderen mit runter."
 
Keine Aussicht auf Besserung bis Peking
 
Nach Meinung Fischers werden in den vielen Vereinen hierzulande trotz zahlreicher guter Sportstätten viel zu wenige Kinder an den Sport herangeführt. "Da fängt es im Prinzip an: Wir haben einen Haufen arbeitsloser Lehrer, aber in den Vereinen fehlt es an Betreuung", erklärte Fischer.
 
Aussicht auf Besserung bis zu den Sommerspielen 2008 sieht die deutsche Rekord-Olympiasiegerin nicht: "Bis Peking wird es nicht mehr reichen. Wir haben das Ding über lange Zeit in die Tonne getreten, nun müssen wir genauso lange wieder aufbauen."
 
Einige Sportler-Kollegen haben sich nach Ansicht von Fischer auch durch Medientermine vom Training abhalten lassen. Man müsse knallhart entscheiden, was wichtiger sei: Leistung oder ein Auftritt in der Zeitung.
 
Kritik an Jan Ullrich
 
Den Wirbel um Schwimmerin Franziska van Almsick bezeichnete Fischer als "gemachte Story". Der enttäuschende Radprofi Jan Ullrich mit seinen "tausend Beratern" mache simple Sachen falsch. "Sein ständig schwankendes Gewicht ist leistungsabträglich, dann das Bild von ihm in den Medien. Da frage ich mich: Was sind das für Berater?"
 
Quelle:
 


Eliteschulen des Sports
 
„Suche nach dem Optimum“
Die Eliteschulen des Sports müssen sich einer umfangreichen Evaluierung unterziehen
 
Quelle: Berliner Zeitung vom09.09.2004 Sport - Seite 16
Autor: Heinz-Peter Kreuzer
 

KÖLN, 8. September. Das schlechte Abschneiden der deutschen Olympiamannschaft bei den Sommerspielen in Athen hat die Diskussion um die Erneuerung der Sportstrukturen angeheizt. In Sachen Sporterfolge sei das Erbe der DDR aufgebraucht, heißt es. Aber ein Erbe aus DDR-Zeiten erlebt unter dem neuen Namen Eliteschule des Sports, dieses Prädikat wird seit 1997 vergeben, eine Renaissance. Das Nachfolgemodell der Kinder- und Jugendsportschulen (KJS) wird von den Sportfunktionären und dem Sponsor als Brutstätte neuer Weltklasseathleten und Modell für die Zukunft gefeiert. "Ehemalige Eliteschüler stellten rund 30 Prozent der deutschen Athleten bei Olympia (insgesamt 451/d. A.) in Athen, waren aber zu 60 Prozent an den 48 Medaillen beteiligt", sagt Dietrich Hoppenstedt, Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes, der als einziger Förderer aus der Wirtschaft diese Einrichtung finanziert. In dieser Rechnung tauchen auch jene vier Medaillengewinner auf, die noch zu DDR-Zeiten in die KJS gegangen waren. Für Ulrich Feldhoff, Vizepräsident Leistungssport des Deutschen Sportbundes (DSB), sind die Eliteschulen unverzichtbar. "Zu diesem System gibt es keine Alternative im ge-samten Nachwuchs-Leistungssport. Es wird in allen Ländern, die sich im Weltsport vorne wiederfinden, praktiziert." Know-how von damals. Als Botschafter der Effektivität präsentierte der Arbeitskreis Eliteschule drei Olympiasieger - alles Absolventen, aber keinen aktuellen Schüler. "Ich habe noch die KJS durchlaufen und mich dadurch weiterentwickelt", schwärmt der 34-jährige Radsportler Jens Fiedler. Sein jüngerer Mannschaftskamerad René Wolff war Schüler am Sportgymnasium Erfurt. Ohne diese Einrichtung hätte er kein Gymnasium besuchen können, mit Einzelunterricht habe er seine Defizite in den Sprachen ausgleichen können. Und Kanute Andreas Dittmer lobt das System als Fundament des deutschen Sports, in dem das Know-how von damals genutzt wird. Die Strukturen haben sich mittlerweile stark verändert, die Eliteschulen der heutigen Zeit sind im Gegensatz zur KJS keine reinen Sportschulen mehr. Der Nachwuchs wird mit leistungsstarken Trainingsgruppen und qualifizierten Trainern an den jeweiligen Olympiastützpunkten gefördert, da werden alle Kräfte konzentriert. Doch im schulischen Bereich werden die Talente in öffentliche Gymnasien, Realschulen und in Einzelfällen auch in Hauptschulen integriert. Die 38 Eliteeinrichtungen arbeiten mit insgesamt 85 Schulen zusammen, außerdem ist das Vollinternat nicht mehr die Regel, in Ballungszentren wie dem Ruhrgebiet gibt es nur Tagesinternate. Das Zusammentreffen von Talenten mit anderen Jugendlichen ist für Feldhoff ein Nachteil. "Der Klassenverbund von jungen Nachwuchssportlern mit Schülern, die mit dem Sport überhaupt nichts zu tun haben, geschweige denn junge Leistungseliten darstellen, hat sich nicht bewährt. Der Leistungssportler wird durch die Stimmung in der Klasse oft runtergezogen." Da das Niveau zwischen den Eliteschulen schwankt, sollen alle evaluiert werden. Innerhalb der nächsten sechs Wochen sollen die Ergebnisse vorliegen. Dann wird es Auf- und Absteiger geben, neue Schulen rücken nach, anderen wird das Zertifikat entzogen. Aber nicht nur die schulische Ausbildung des Sportnachwuchses steht im Zentrum der Erneuerung. Feldhoff kündigt an, bei den nächsten Kultus- und Sportministerkonferenzen neue Strukturen für den gesamten Nachwuchssport einzufordern.

"Wir müssen die Talentsichtung in den einzelnen Ländern neu aufbauen, sie ist teilweise vom Zufall abhängig." Die schwierigste Phase im Leben der Sportler ist jedoch die Zeit nach der Schule. "Es muss ein leistungssportfreundlicheres Klima entstehen, es müssen auf den Sport abgestimmte Rahmenbedingungen für Ausbildung und Studium geschaffen werden", fordert Feldhoff.
 
 
 
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