Eliteinternate:


Parallelwelten
in der
Broken Society

 
Der Versuch, das Image deutscher Luxusinternate nachhaltig aufzupolieren,
ist wieder einmal gründlich gescheitert.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 Von Ulrich Lange

„Deutsche Internate vom Aussterben bedroht“ hatte noch Anfang der 1990er Jahre die „Welt am Sonntag“ getitelt. Deutsche Führungskräfte in Wirtschaft, Politik und Verwaltung, so hieß es da, hielten laut einer Umfrage des Allensbacher Instituts für Demoskopie wenig von der Erziehung Jugendlicher in Internaten. Nur jeder vierte Manager in den alten Bundesländern glaube, dass eine Internatserziehung die Entwicklung von Kindern fördere. Jeder Zweite (49 Prozent) hingegen betrachte den Internatsbesuch lediglich als Notlösung, beispielsweise dann, wenn die Eltern - weil beide berufstätig oder allein erziehend - zuwenig Zeit für ihre Kinder hätten. Als Hauptursachen für den Vertrauens- und Nachfrageschwund bei der angestammten Kundschaft galten offiziell die Verarmung der Mittelschicht und die Absenkung des Anforderungsniveaus öffentlicher Schulen, dank deren sich die begehrten Schulabschlüsse auch ohne internatstypische Zwangsmittel oder nachsichtige Zensurengebung erreichen ließen. Insider kolportierten jedoch hinter vorgehaltener Hand noch ganz andere Gründe für die nachlassende Internatsbegeisterung: Wachsende Disziplinlosigkeit in den Internatsschulen und Schülerheimen, Mobbing, Alkoholexzesse und Drogenprobleme 

Doch dann der erstaunliche Umschwung: Am Ende der sogenannten Nullerjahre bejubelten teure Wohnschulen wie Salem, Neubeuern oder Louisenlund einen angeblichen Imagewandel. Trotz Dotcom-Blase und Finanzkrise, prahlten Privatschulverbände und gewerbsmäßige Internatsvermittler, habe sich ein regelrechter Nachfrageboom entwickelt, der es nicht nur erlaube, jeden Internatsplatz zu belegen, sondern sich die geeigneten Aufnahmekandidaten sogar aus einer großen Bewerberzahl sorgfältig auszusuchen. Das niedrige Niveau öffentlicher Lehranstalten, das noch in den 1990ern für den drohenden Untergang der Wohnschulbranche verantwortlich gemacht wurde, diente nun plötzlich der Erklärung des angeblichen Internatshypes: Vor allem die schlechten PISA-Ergebnisse hätten besorgte Eltern veranlasst, notfalls auf den Zweitwagen zu verzichten, um dem staatlichen Bildungswesen den Rücken kehren zu können. Mittlerweile ziehe es nicht so sehr Schulversager und Erziehungsschwierige als vielmehr die  Begabten und Leistungswilligen in die elitären Privatinstitute. Dort garantierten kleine Klassen, engagiertere Lehrer und eine bessere Ausstattung für exzellente Abschlüsse, öffneten sich den Absolventen die Türen international renommierter Elitehochschulen und sicherten die Altschüler-Netzwerke die spätere Karriere.

Gegen diese mit medialer Unterstützung fast perfekt inszenierte Imagekampagne, meldeten sich nur wenige kritische Stimmen zu Wort. So berichtete die junge Autorin Julia Friedrichs („Gestatten Elite“, Hamburg 2008), die - "auf den Spuren der Mächtigen von morgen" - neben Elite-Kindergärten und Elite-Universitäten auch die als "Eliteinternate“ gehandelten Landerziehungsheime Schloss Neubeuern und Schloss Salem besucht hatte, von „kompletten Parallelwelten“ und stellte fest,

„dass hier nicht die Leistungs- sondern die Geldelite gefördert wird. Für den Aufenthalt einschließlich Schulkleidung, Nebenkosten und Bücher zahlen Eltern rund 30.000 Euro pro Jahr, Taschengeld und Ausflüge gehen extra. Es gibt kleine Klassen, Einzelförderung und Hausaufgabenhilfe, trotzdem liegt der Abi-Durchschnitt bei knapp drei. Lehrer beklagen die "Wohlstandskrankheit" unter den Kindern, denen es angesichts steter finanzieller Sicherheit an Ehrgeiz und Motivation fehle.“

Die gemeinnützige Internatsberatung der AVIB e.V. wies durch Dokumentation von 40 Jahren Medienberichterstattung nach, dass der behauptete Imagewandel eine reine Ausgeburt des PR-Journalismus bzw. die Erfindung von Privatschulverbänden und Internatsvermittlern sei. Ihr Fazit: Alle drei bis fünf Jahre werde die Mär von der angeblichen Verbesserung des Internats-Images in Umlauf gesetzt. Bewahrheitet hätten sich derartige Prognosen jedoch nie.

Im Frühjahr 2010 flogen den falschen Propheten des angeblichen Imagewandels dann die Enthüllungen über jahrzehntelangen sexuellen Missbrauch auch und gerade in den vermeintlich angesehensten Internaten um die Ohren. Anfangs scheinbar ein Problem sinnenfeindlicher katholischer Einrichtungen - Canisius-Colleg Berlin, Kloster Ettal, Internat der Regensburger Domspatzen - erwiesen sich bald auch reformpädagogische Aushänge- schilder wie die Internate der Vereinigung Deutscher Landerziehungsheime (DLEH) als idealer Nährboden für Missbrauch und Gewalt.

Enthüllt wurde bis heute allerdings – trotz aller medialen Empörung und wohl auch wegen des im Gegensatz dazu nicht immer sehr spontanen Bemühens der Internats-Verantwortlichen um „brutalstmögliche Aufklärung“ alter Sünden – wiederum nur die sprichwörtliche „Spitze des Eisberges“.

In etwa 30 der 300 Internate in Deutschland, so behauptete das „FOCUS Magazin“ (Nr. 11/2010) unter der Überschrift „Wenn die Insel zur Hölle wird“, seien Kinder von ihren Lehrern begrabscht, verprügelt oder missbraucht worden. Tatsächlich betroffen seien aber laut Aussage des Bonner Erziehungswissenschaftlers und Internatsexperten Volker Ladenthin  alle Internate; und wie ein ehemaliger Schulleiter, der anonym bleiben wolle, ergänzte: „auch die vermeintlich besten“. „Wenn man da graben würde“, so düstere Prophezeihung des Anonymus, „kämen Tausende Fälle hervor.“

Dass solche Befürchtungen durchaus realistisch sind, zeigt der Fall des Aloisiuskollegs in Bonn-Bad Godesberg, eines Jesuitengymnasiums mit bis vor kurzem noch elitärem Ruf und engen Kontakten ins feine englische Eton. Von zahlreichen Pannen bei der Aufarbeitung der Vergangenheit berichtet der Hörfunksender WDR5 (Sendung vom 07.11. 2010). Zunächst wurden Missbrauchsfälle abgestritten, dann Untersuchungsergebnisse verfälscht und belastete Mitarbeiter geschützt. Mittlerweile bemüht sich nach einem Krisenteam des Instituts und der Missbrauchsbeauftragten des Jesuitenordens bereits das dritte Gremium um Aufklärung. Ein Zwischenbericht nennt 70 Vorfälle und 18 Beschuldigte sowie Delikte von Ohrfeigen bis zu Oral- und Analverkehr im Zeitraum bis 2008. Die Opfervereinigung „Eckiger Tisch“ hat laut Aussage ihres Sprechers, Jürgen Repschläger,  inzwischen jegliches Vertrauen in die Aufklärungsarbeit des Aloisiuskollegs verloren.  

Der Präsident des Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, kritisierte kürzlich, dass die nun aufgebrochene Missbrauchs-Diskussion an inflationär eingerichteten runden Tischen sich zu sehr um die Vergangenheit drehe und hierbei zu kurz komme, dass „Zehntausende Kinder auch im Jahre 2010 dasselbe Schicksal erleiden werden“. Und längst ist aufgrund einschlägiger Medienberichte eine weitere „Baustelle“ in den Fokus des öffentlichen Interesses geraten: Der Missbrauch von Kindern an Kindern. Schon aus Berichten über die Vorgänge an der Odenwaldschule war zu entnehmen, dass Internatsschüler von ihren Kameraden sexuell misshandelt wurden und der zuständige Erzieher nicht eingriff. Da droht, mit der deliktspezifischen Verzögerung von Jahren oder Jahrzehnten, wohl schon die nächste Enthüllungswelle. 

Kinder und Jugendliche zunächst als Opfer bemitleidet, dann als Täter an den medialen Pranger gestellt – so schnell ändert sich die Blickrichtung der veröffentlichten Meinung. Inzwischen häufen sich auch hierzulande die haarsträubenden Berichte über sexualisierte Gewalt unter Kindern und Jugendlichen. In Großbritannien erregten sadistische Verbrechen erst 10- oder 11-jähriger Kinder die Öffentlichkeit schon vor Jahren. Dabei ging es nicht ums Äpfelklauen in Nachbars Garten, sondern um Mord, Mordversuch, schweren Raub und sexuelle Misshandlung zum Nachteil Gleichaltriger. Der englische Premier David Cameron sprach schon während seiner Zeit als Oppositionsführer der Konservativen von einer „broken society“, einem an seinen ungelösten sozialen Problemen zerbrechenden Gemeinwesen. 

Die Parallelwelten deutscher „Elite“-Internate sind von solchen Entwicklungen viel stärker betroffen als viele meinen. „Wer von Elite spricht“, behauptet der Darmstädter „Elite-Soziologe“ Michael Hartmann, „redet immer auch von einer Teilung der Gesellschaft.“ Dass deren oberer und unterer Teil auch in Deutschland immer stärker auseinander driften, gilt als unbestritten. Weniger bekannt dürfte sein, dass „Oben“ und „Unten“ in ihren extremen Erscheinungsformen erstaunliche Ähnlichkeiten aufweisen. Was in Berlin-Kreuzberg „Verwahrlosung“ genannt wird, heißt in Salem, Neubeuern oder Louisenlund  „Wohlstandskrankheit“. So beschreibt Julia Friedrichs ihre Verwirrung beim Besuch eines bayrischen Luxus-Internats:

„Die Lehrer erzählen von antriebslosen Kindern, vom Kampf um Disziplin. Von Schulkarrieren, die es zu retten gilt. Das klingt nach Hauptschuldiskussion. Bin ich tatsächlich an einem Internat, das von sich behauptet, Eliten auszubilden?“ 

Diese Verwirrung wäre noch steigerungsfähig durch den Hinweis auf die von den Nobel-Internaten gern verschwiegene Tatsache, dass sich die vermeintlichen Eliteschmieden gern auch von Jugendämtern mit sogenannten „Problemkindern“ belegen lassen. Es ist kaum zwei Jahre her, da sorgte dies für große Aufregung in der Hamburger Bürgerschaft. Die Bildzeitung titelte: „Problemkinder ins Luxus-Internat geschickt!“ Die SPD-Fraktion argwöhnte Steuerverschwendung. Doch Senat und Privatinstitute wiegelten ab. Eine Jugendhilfe-Maßnahme im Nobelinternat Louisenlund etwa sei 40% preiswerter als die Unterbringung eines Problemfalls in einer betreuten Wohngruppe. Von „gängiger Praxis“ sprach Louisenlunds Internatsleiter Dieter Plate laut Hamburger Abendblatt. Zitat: "Das kenne ich auch noch aus meiner Zeit in Salem." Gewalttäter gebe es auf seinem Internat jedoch nicht.

Da hatten andere Landerziehungsheime wohl weniger Glück. Bundesweites Aufsehen erregte unter anderem der grausame Mord eines Jugendlichen aus Eritrea an einem deutschen Mitschüler in der Urspringschule (Baden-Württemberg) – angeblich wegen Schulden des Deutschen von fünfzig Euro. Auch hier zahlte ein Jugendamt für den Internatsaufenthalt des Täters.

So begegnen sich Oben und Unten merkwürdigerweise gerade dort, wo besserverdienende Schichten sich eine gewisse soziale Exklusivität zu erkaufen hoffen, um ihre Sprösslinge vor Milieubedingungen zu bewahren, zu deren Symbol die Rütli-Schule in Berlin-Neukölln wurde. Wohl nicht zufällig zog die Autorin Julia Friedrichs die Parallele gerade zu dieser Skandalschule in der Neuköllner Rütli-Straße, indem sie das Landerziehungsheim Neubeuern in einem Interview als  „Rütli-Schule mit Schlossambiente“ beschrieb.    

Verzweifelt ringen die Luxusinternate angesichts solcher Vergleiche um ihren „guten Ruf“, doch wird die Glaubwürdigkeit ihrer Bemühungen immer wieder durch die Konfrontation mit der hässlichen Realität erschüttert. Bestes Beispiel hierfür war ein Auftritt des ehemaligen Leiters der Schule Schloss Salem, Bernhard Bueb, in der Talk-Runde „Menschen bei Maischberger“ am 9. Februar 2010. Dort traf Deutschlands strengster Erzieher (BILD) – offensichtlich ziemlich unvorbereitet – auf  den „härtesten Rapper Deutschlands (WELT online)  in Person des Anis Mohamed Youssef Ferchichi, besser bekannt als Bushido, der die deutsche Jugend laut Pressetext zur Sendung bereits für „so krass verkorkst“ hält, dass er mit seinen politisch äußerst unkorrekten Sprechgesängen „da nicht mehr viel kaputt machen“ könne.

Mit der These, die behüteten Elternhäuser seiner Salemer Schüler machten diese immun gegen schädliche Deutschrap-Einflüsse, und der Behauptung, dass der „Spaßkonsum“ von Drogen in Salem mittels Einsatz von Urin- bzw. Alkotests unterbunden worden sei, geriet Bueb allerdings an den Falschen. Denn der ehemalige Drogendealer mit Migrationshintergrund und Unterschicht-Hautgout erwies sich im wortwörtlichen Sinne als intimer Salem-Kenner (Zitat: „Ich kenn’ auch viele Damen aus Salem.“). Ein paar Stichproben nützten überhaupt nichts, um die Salemer Drogenszene auszutrocknen, verriet er dem konsternierten Pädagogen. Und von wegen Spaß-Konsum: Er kenne den enormen Erfolgsdruck, unter dem die Salemer SchülerInnen aufgrund ihrer sozialen Herkunft und ihres familiären Hintergrunds stünden.

Ja, da konnte der Herr Bueb lernen, wie gering der Abstand zwischen „Oben“ und „Unten“ werden kann, wenn „Unten“ irgendwie zu Geld kommt. Ganz neu dürfte ihm das indessen nicht gewesen sein, denn seine Schule wirbt seit vielen Jahren unter den neuen Reichen in Russland, China und den übrigen Boomregionen der „Dritten Welt“ angestrengt um neue Kundschaft. Da bricht eine "Elite" in die "Altsalemer"- Netzwerke ein, über deren Wesensart man sich keinerlei Illusionen hingeben sollte. Aber vermutlich ist die "Aristokratie der Bankauszüge" ohnehin überall auf der Welt von ähnlicher Qualität. „Hinter jedem großen Vermögen“, so spottete schon der französische Dichter Honoré de Balzak,  „steht ein Verbrechen“.

Imagewandel hin oder her - das Gedächtnis der „interessierten Öffentlichkeit“ ist bekanntlich kurz und das Entsetzen über Missbrauch und Gewalt in Deutschlands Internaten scheint bereits abzuflauen. Positionen wie die des ehemaligen Odenwald-Schulleiters Wolfgang Harder, der "das System Internatsschule […] als Ganzes in Frage gestellt" sah (siehe taz.de vom 08.03.2010), fanden wenig Resonanz. Letztlich wird noch immer deutlich mehr vertuscht als aufgedeckt, überwiegt die Sorge um den Fortbestand der vermeintlichen Eliteschulen selbst bei (ehemaligen) Schülern und Eltern, denjenigen also, die eigentlich das größte Interesse an schonungsloser Aufklärung haben müssten, damit sich Ähnliches nicht wiederholen kann. Das bestätigt auch die Kölner Sozialrechtlerin Prof. Julia Zinsmeister, die Leiterin der Untersuchungskommission am Bonner Aloisiuskolleg:

„Es ist häufig sicherlich auch die Sorge darum, dass die aktuellen Schüler durch diese Debatte sehr, sehr stark belastet werden. Bei anderen Eltern besteht einfach die Sorge insgesamt, dass der Ruf des Kollegs dadurch schaden erleiden könnte.“ 

Opfer und Mahner werden da schnell zu lästigen „Nestbeschmutzern“, und man beginnt zu begreifen, welche Interessen diese Parallelwelten zusammenhalten bzw. was den oberen Rand der „broken society“ von ihrem unteren Ende letztlich unterscheidet.

Ob alter Adel oder Geldelite – immer ging es der „guten Gesellschaft“ darum, Machtanspruch (Autorität) und Privilegien durch eine untadelige „Reputation“ abzusichern. Auch für die Elite-Internate ist der „gute Ruf“, sprich: die Wertschätzung, derer man sich öffentlich oder in bestimmten Kreisen erfreut, überlebenswichtig. Um Skandale zu verhindern, das kennt man aus der Literatur wie aus dem wirklichen Leben, wird nicht nur auf der politischen Bühne, sondern auch hinter den prächtigen Fassaden vermeintlicher Eliteschulen, mit härtesten Bandagen gekämpft.

In englischen und amerikanischen Kriminalromanen schrecken die Leiter von Nobelinternaten vor keiner Schandtat zurück, um den guten Namen ihrer Institute zu bewahren. In der deutschen Realität sorgen aggressive Anwaltskanzleien und kooperative Gerichte sowie ein Netzwerk aus Altschülern und anderweitigen Unterstützern aus der „guten Gesellschaft“ dafür, dass vorlauten Kritikern von Salem und Co. der Spaß an geschäftsschädigenden Enthüllungen schnell vergeht. Genau dieses Pilzgeflecht in Politik, Wirtschaft, Verwaltung und Justiz hat auch dafür gesorgt, dass Missbrauch und Gewalt in den Internaten so lange unentdeckt (oder besser: unveröffentlicht) bleiben konnten und das ganze Ausmaß des Skandals wohl nie ans Tageslicht kommen wird.

Insofern machen Missbrauchsbeauftragte, Untersuchungskommissionen, runde Tische, Präventivkonzepte und dergleichen mehr im Hinblick auf die Verhinderung künftigen Missbrauchs gerade einmal so viel Sinn wie Urin-Stichproben und das Blasen in Alko-Tester als Patentlösung gegen den internatsnotorischen Drogenkonsum. Sie sind eher Ausdruck von Hilflosigkeit und sollen wohl vor allem die zahlende Kundschaft beruhigen.

Wahrscheinlich richtet die grassierende Missbrauchshysterie in den Internaten sogar mehr Schaden an als Nutzen zu stiften. Dies jedenfalls befürchtet der Schweizer Psychologe Peter Näf:

„Lehrer und Erzieher müssen immer mehr Angst vor falschen Anschuldigungen rach- oder geltungssüchtiger (meist ehemaliger) Schüler haben (Missbrauch des sexuellen Missbrauchs - ein Tabuthema). Falsche Anschuldigungen können sich heute auch finanziell lohnen (Genugtuungssummen). Die früher üblichen Gespräche bei Schulschwierigkeiten zwischen Schüler/-in und Lehrer nach der Stunde verweigern heute manche Lehrer oder führen sie nur in Beisein von Dritten oder mit andern "Sicherheitsmassnahmen" durch, z.B. nur bei offener Tür. Ein schwerer Verlust für das Vertrauensverhältnis zwischen Schülern und Erziehern (Heimerzieher bedauern den Verlust an Intimität).“

Von den Verantwortlichen der Internate, von Privatschulverbänden und Internatsvermittlern  wird mittlerweile dankbar registriert, dass selbst die widerwärtigsten Darstellungen inflationären sexuellen Missbrauchs der Nachfrage nach Internatserziehung kaum haben schaden können. Wenn dies zutrifft, so liegt das sicherlich nicht daran, dass die Luxusinternate ungeachtet des aktuellen Imageschadens nach wie vor als Pflanzstätten einer geistigen und moralischen Elite gelten. Zu vieles spricht für das genaue Gegenteil dessen. 

Denn mit welchen gesellschafts- oder bildungspolitischen Tarnmotiven betuchte Eltern ihre Entscheidung, den Nachwuchs einem vermeintlichen Eliteinternat anzuvertrauen, auch immer bemänteln mögen - die tatsächlichen Nachfragemotive der Kundschaft sind wohl seit vielen Jahrzehnten die gleichen. In aller Regel möchte man den Bedarf an schulischer und erzieherischer Unterstützung mit dem Mehrwert der sozialen Exklusivität und der Karriereförderung in den Netzwerken der Reichen und Einflussreichen verbinden. An Qualität ist man nur insoweit interessiert, als man von einer Art Markenimage profitieren kann, das der persönlichen Selbstaufwertung nützt. Ex-Finanzminister Peer Steinbrück bestätigt dies in seinem kürzlich erschienenen Buch „Unterm Strich“ auf die ihm eigene pointierte und schonungslose Art:

„Ich bin in all den Jahren als Minister manchmal Maklern, Invest- mentbankern und Jungunternehmern begegnet, die von einer er- schreckenden Dünkelhaftigkeit, Selbstbezogenheit und Herablassung gegenüber dem gemeinen Volk waren. […] Nicht selten tauchen in ihrem Schlepptau schwer erziehbare, weil völlig verwöhnte Kinder auf, die dann auf Internate mit der Begründung geschickt werden, dass die öffentlichen Schulen in Deutschland zu schlecht seien.“


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