Internate:

Viele wollen die Wahrheit nicht hören!

Herr Lange, Sie bieten seit 25 Jahren Entscheidungshilfen für die Internatsauswahl an. Ihre Kritik an den Zuständen in deutschen Internatsschulen und Schülerheimen ist aber z.T. derart heftig, dass Sie vom Besuch eines Internats eher abschrecken!?

Bei oberflächlicher Betrachtung mag ein solcher Eindruck entstehen, besonders für Eltern, die allzu optimistische Erwartungen gegenüber Internaten hegen oder sehr unsicher sind, ob der Wechsel ins Internat die richtige Lösung für ihr Kind darstellt. Aber bitte bedenken Sie eines: Die zentrale Aufgabe der AVIB gemn. e.V. ist der Verbraucherschutz in Bildungs- und Erziehungs-fragen. Das impliziert eine sehr kritische Grundhaltung gegenüber den Angeboten auf dem Internatsmarkt. Derzeit wird massiv für Privatschulen und Internate geworben. In den Medien überwiegen PR-Journalismus und Hofberichterstat-tung. Da würde ich meine Aufgabe schlecht erfüllen, wenn ich in die allgemeinen Lobgesänge einstimmen oder Ratsuchenden nur das erzählen würde, was sie gern hören möchten.

Gibt es in Ihren Augen denn überhaupt „gute“ Internate?

Es gibt zumindest erheblich weniger schlechte als schlecht ausgewählte Internate. Fehler bei der Auswahlentscheidung kann man aber nicht pauschal den Instituten anlasten. Es liegt mir daher fern, die pädagogische Arbeit, die vielerorts geleistet wird, undifferenziert abzuwerten. Auf der anderen Seite ärgert es mich zum Teil aber wahnsinnig, wenn durch eine bewusst irreführende Werbung oder die gezielte Desinformation der Öffentlichkeit Erwartungen geweckt werden, die mit seriösen Mitteln schlichtweg nicht einlös-bar sind. Ohnehin neigen sogenannte Internatseltern zu einer unrealistischen, widersprüchlichen und vollkommen unvernünftigen Erwartungshaltung hinsichtlich der Möglichkeiten und Wirkungen internatspädagogischer Interventionen. Je verzweifelter die Lage des Kindes, desto irrationaler die Hoffnungen der Eltern. Das grenzt dann manchmal schon an Wundergläubigkeit.

Was können Eltern denn von Internaten erwarten oder was leisten Internate gewöhnlich nicht?

Sehr gut sind Internate oft in den Bereichen, die wir Hotelkategorien nennen, also den Rubriken Standort/landschaftliche Lage, Wohnkomfort und Verpflegung. Da hat sich in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren etliches zum Positiven verändert. Nur sind Internatsschulen und Schülerheime ja nicht in erster Linie Feriendomi-zile und Wohlfühl-Oasen. Die meisten Aufnahmekandidaten weisen entwicklungs-, erziehungs- oder schulisch bedingte Defizite auf. Ein kleinerer Teil sucht auch ein Elite-Internat, in dem besondere Begabungen berücksichtigt und entwickelt werden können.

Und genau in diesen Bereichen schwächeln dann die pädagogischen Konzepte?

Zumindest sollten Eltern dann besonders genau hinschauen, ob wirklich das geboten wird, was das Kind braucht. Am einfachsten haben es natürlich diejenigen, die ein vollkommen unproblematisches, d.h. in sich gefestigtes, seelisch belastbares und schulisch leistungsfähiges Kind außerhalb der Familie unterbringen möchten, etwa weil die Eltern aus beruflichen Gründen ins Ausland umsiedeln müssen und dem Kind den Wechsel in ein anderes Schulsystem oder eine fremde Kultur nicht zumuten wollen. Sie müssen sich mit pädagogischen Konzepten oder therapeutischen Ansätzen im Detail nicht befassen, sondern brauchen lediglich darauf zu achten, dass Sohn oder Tochter anständig betreut werden und nicht in schlechte Gesellschaft geraten.

Aber glaubt man Ihren Warnungen, stellt diese „schlechte Gesellschaft“ eines der hauptsächlichen Internatsrisiken dar.

Sie müssen nicht meinen Warnungen glauben. Wir haben über einen langen Zeitraum so viele negative Erfahrungs-berichte archiviert und dokumentiert, die von einer hohen Konzentration sehr problematischer Kinder und Jugendlicher in vielen Internaten sprechen, dass es unredlich wäre, Eltern nicht auf die Gefährdungsrisiken hinzuweisen, die sich daraus ergeben können. 

Aber wir verschweigen ja nicht, dass es auch positive Rückmeldungen von Eltern oder Schülern gibt, die natürlich ganz unterschiedlich motiviert sein können und auch nicht unbedingt immer im Sinne guter Referenzen verwertbar sind. Oft stehen bei ein und demselben Institut überschwengliche Lobeshymnen einem totalen Verriss gegenüber. Lesen Sie einmal die Bewertungen von Internaten in sogenannten Verbraucherportalen. Da finden Sie alles zwischen Himmel und Hölle.

Bei ein und demselben Institut?

Ja, und dazu auch oft noch den gleichen Zeitraum betreffend.

Wie kommt das zustande?

Da kommen viele Gründe in Frage. Jeder weiß aus Erfahrung, dass unterschiedliche Personen die Realität unter Umständen auf ganz eigene Weise wahrnehmen. Denken Sie nur an die Unzuverlässigkeit von Zeugenaussagen. Die vorgefasste Meinung bzw. die Erwartungshaltung spielen eine erhebliche Rolle und auch der Zeitabstand, aus dem berichtet oder sich erinnert wird. Es gibt das Phänomen des Erinnerungs-optimismus: Schlechte Erfahrungen verblassen; es überdauert das Schöne, Erfreuliche, Harmonische. Die Psyche des Menschen scheint auf Verdrängung pro-grammiert. Viele neigen dazu, ihre Erinnerungen zu retuschieren, um sich selbst besser akzeptieren zu können. Ich erlebe es zum Beispiel auch bei den Ehemaligen unseres Grünberger Alternativinternats: Mädchen oder Jungen, die nach meiner Wahrnehmung größte Probleme hatten und unser Haus zum Teil wirklich mit Schimpf und Schande verlassen mussten, rufen mich zehn Jahre später an und behaupten, ihre Zeit bei uns sei die schönste ihres Lebens gewesen.

Die Referenzen ehemaliger Schüler oder ihrer Eltern wären demnach keine sehr zuverlässige Hilfe bei der Internatsauswahl.  Braucht man gerade deshalb Internatsberater?

Ratsuchende Eltern orientieren sich gern an den Erfahrungen sogenannter Gewährspersonen. Aber deren Glaubwürdigkeit wird danach beurteilt, inwieweit ihre Aussagen den eigenen  inneren  Bildern  bzw.  den Hoffnungen und Erwarttungen entsprechen, die  mit dem Wechsel ins Internat verknüpft werden. Nun habe ich aber den Eindruck, dass die Zahl derjenigen Eltern bzw. Schüler und Schülerinnen, die den von ihnen besuchten Einrichtungen ein gutes Zeugnis ausstellen, im Schwinden begriffen ist...

Worauf stützt sich diese Annahme?  

Nehmen Sie nur die hohe Zahl von Internatsabbrechern. Die Schülerfluktuation in den Internaten ist offensichtlich enorm, die Aufenthaltsdauer verringert sich dagegen ständig.

Das könnte auch rein wirtschaftliche Gründe haben. Internatserziehung ist ein teurer Spaß.

Auch die sinkende Wirtschaftskraft gerade von Mittelschichteltern mag dazu führen, dass die Kinder immer später ins Internat gegeben werden und oft nur noch ein oder gar ein halbes Jahr bleiben. Die Hauptursache scheint mir aber in überhöhten Erwartungen einerseits und einem zu geringen Durchhaltevermögen bei auftretenden Schwierigkeiten andererseits zu liegen. In den Internaten versammeln sich eben nachweislich auch immer die Unzufriedenen, zum Teil auch ausgesprochene Querulanten, die es sich an der alten Schule mit allen verdorben oder sogar bereits mehrere Schulen verschlissen haben. Einschlägige Untersuchungen weisen einen direkten Zusammenhang nach zwischen den Zensuren der Kinder und der Schulzufriedenheit der Eltern. Wenn dann die Noten der Kinder im Internat nicht schlagartig besser werden oder auch von den neuen Lehrern die gleichen Klagen über mangelnde Leistungen oder schlechtes Sozialverhalten kommen, die man eigentlich nicht mehr hören wollte, wechselt man eben erneut das Revier.

Das hört sich jetzt so an, als sei auf Seiten der Internate alles in Ordnung.

Langsam. Oft weckt die Internatswer-bung natürlich auch falsche Erwartungen. Ein typisches Beispiel ist die Hausaufgabenbetreuung im Internat. Die ist fast überall weit schlechter als sie sein müsste. Auch die idealisierte Vorstellung vom lustigen Gemeinschaftsleben unter Gleichaltrigen wird oft enttäuscht. Die Zimmerkameraden entpuppen sich als unangenehm, es wird gemobt und gestohlen, es gibt trotz des beeindruckenden Freizeitprogramms viel Leerlauf, Alkohol und illegale Drogen.

Wie kann denn eine gute Beratung dazu beitragen, derartige Enttäuschungen zu verhindern?

Der Internatsberater muss die möglichen Schwachpunkte verschiedener Internats-konzepte sowie die hieraus resultierenden Gefährdungsrisiken oder sonstigen Nachteile natürlich offen ansprechen. Allerdings habe ich in den letzten Jahren den Eindruck gewonnen, dass viele Eltern die Wahrheit gar nicht hören wollen.

Es heißt dann z.B.: „Drogen gibt es doch überall...“

Genau das. Oder man wirft mir vor:: „Sie machen die Internate doch nur schlecht, um Ihr eigenes Internatsprojekt zu pushen“.

Aber tun Sie das nicht auch? Zumindest in manchen Fällen?

Wir haben vor zwanzig Jahren eine Art Alternativ-Internat gegründet, um zu zeigen, wie Internate aussehen müssten, die den Anspruch einlösen, das soziale Umfeld für ihre SchülerInnen zu verbes-sern, die tatsächlichen Ursachen vieler Schulprobleme zu beseitigen und junge Menschen wirklich lebenstüchtig zu machen. Wenn wir sehen, dass Ratsu-chende genau diese Form der Internats-betreuung suchen, die es ja sonst praktisch nicht gibt, weisen wir natürlich auch auf diese eigene Gründung hin, die allein aufgrund ihrer geringen Aufnahmekapazität von max. 10 Plätzen den übrigen Internaten wohl kaum das Wasser abgraben wird. Zudem weisen wir ganz deutlich darauf hin, dass dies unser praktischer Beitrag zur Lösung internatstypischer Probleme ist. Insofern wird ja niemand getäuscht. Da wir unsere Beratungsarbeit irgendwie finanzieren müssen und weder Vermittlungsprovisionen noch Beratungshonorare in Rechnung stellen, sind wir auf die materielle Absicherung durch diese Einrichtung angewiesen, die der gemeinnützige Trägerverein zwar nicht selbst unterhält, aber im Bedarfsfall natürlich auch mit anbietet. Gleichzeitig basiert ein Großteil meiner Beratungskompetenz auf der praktischen Arbeit, die ich tagtäglich in diesem Alternativ-Internat leiste. Die Erkenntnisse aus der praktischen Erziehungsarbeit und der schulischen Betreuung von SchülerInnen aller Schulformen und aller Begabungsprofile fließen unmittelbar in die Einzelfallberatung ein und verbürgen deren Qualität. Nur der erfahrene Praktiker hat eine Vorstellung davon, unter welchen Milieubedingungen und mit welchen gezielten Einzelmaßnahmen etwa einem Problemkind am wirksamsten zu helfen ist bzw. ob Internatserziehung überhaupt das zu leisten vermag, was im konkreten Fall indiziert wäre.

Wer den Eindruck gewinnt, dass meine Beratung einseitig auf das „eigene“ Internat zuläuft, obwohl er ganz andere Vorstellungen hat, kann dies mir gegenüber ja zum Ausdruck bringen. Und niemand muss ja meinen Rat annehmen. Er sollte sich dann allerdings auch nicht beschweren, wenn er meine kritischen Einwände ignoriert und sein Kind dies anschließend auszubaden hat.

Was bietet denn Ihre Internatsalternative, was herkömmliche Internate nicht bieten?

Unser „Privates Pädagogisches Institut“ ist mit seinen wenigen Plätzen ganz besonders transparent und daher in der Lage, eine wesentlich intensivere erzieherische und schulische Betreuungsarbeit zu leisten. Dies gilt insbesondere für die Aufarbeitung von Kenntnisdefiziten, da das Schüler-Betreuer-Verhältnisses bei 1:1 liegt. Es gibt meines Wissens auch kein weiteres Internat in Deutschland, das bis in die gymnasiale Oberstufe hinein den absoluten Drogenverzicht fordert, auch hinsichtlich Nikotin und Alkoholkonsum. Und es gibt wohl auch kein zweites Internat, das so konsequent nach verhaltensökologischen Maßstäben erzieht und sich vom üblichen Versorgungsbetrieb traditioneller Einrichtungen im Sinne der Devise „Fordern statt Verwöhnen!“ so vollständig abgewandt hat.

Und wie reagieren denn Eltern im konkreten Fall, wenn Sie hören, dass Sie als gemeinnützige Beratungsstelle praktisch auch ein Internat in der „Hinterhand“ haben?

Unser alternatives Internatsprojekt, das PPI Grünberg, steht nicht unter der Trägerschaft der AVIB gemn. e.V., sondern wird als Privatunternehmen betrieben. Ich selbst arbeite dort ehrenamtlich als Geschäftsführer und Projektleiter mit. Das PPI dient unserem Verein vor allem als Demonstartionsobjekt zur Entwicklung von Qualitätsmaßstäben für die verschiedenen internatspädagogischen Aufgabenfelder. Zusätzlich bietet es auch die Möglichkeit, Kinder und Jugendliche zu diagnostischen Zwecken über längere Zeit aufzunehmen, d.h. im Sinne einer stationären Langzeitbeobachtung.

Ratsuchende, die vielleicht bereits negative Erfahrungen mit gewerbsmäßigen Vermittlungsagenturen oder den als Beratungsstellen getarnten PR-Büros gewisser Internate gemacht haben, interessieren sich in aller Regel sehr dafür, wie die AVIB als gemeinnützige Beratungsstelle sich finanziert. Die Beratungsleistungen der Arbeitsgemeinschaft Verbraucherschutz sind ebenso wie diejenigen der gerade genannten Vermittler oder Werber für die Eltern kostenlos. Natürlich wissen Eingeweihte, dass die von den Internaten gezahlten Vermittlungsprovisionen oder die Kosten eigener PR-Büros auf dem Umweg über den höher kalkulierten Internatspreis auf die Eltern abgewälzt werden, von kostenloser Beratung also im Grunde keine Rede sein kann. Eine solche versteckte Umlegung der Beratungskosten findet im Fall der AVIB nicht statt. Es wird nichts verschleiert oder vertuscht. Sofern die AVIB Spenden in nennenswerter Höhe einnimmt, zahlt sie hieraus sogar eine Büromiete an das private Internat, erstattet also die gewährten Sachleistungen zumindest teilweise zurück.

Die meisten Ratsuchenden haben mit dem Selbstfinanzierungsmodell der AVIB, d.h. mit der Tatsache, dass da ein gemeinnütziger Verein praktisch eine Bürogemeinschaft mit einem sehr kleinen Privatinstitut bildet, um seine Arbeit wirtschaftlich abzusichern, überhaupt kein Problem, wenn man es vernünftig erklärt. Irgendwie muss eine Verbraucherberatungsstelle sich ja finanzieren. Staatliche Mittel für den Verbraucherschutz im Bildungs- und Erziehungswesen gibt es leider nicht. Wer den Verdacht hegt, dass die AVIB mit den Internaten nur deshalb so hart ins Gericht geht, um das private Alternativ-Internat zu unterstützen, müsste eigentlich schon durch die Vielzahl an Quellen und Belegen, mit denen die AVIB ihre kritische Position untermauert, eines Besseren belehrt werden. Wer genau das sucht, was das private Alternativ-Internat – vielleicht als einzige Einrichtung in Deutschland – bietet, ist für einen entsprechenden Hinweis dankbar, auch wenn die AVIB selbst von einer solchen Empfehlung profitiert. Es profitieren dann eben beide. Ratsuchende, die vollkommen andere Vorstellungen von einem geeigneten Internat haben, müssen sich ja nicht überzeugen lassen. Sie können auf eigenes Risiko herausfinden, ob sie von der AVIB objektiv informiert wurden oder nicht.

Woran messen Sie speziell den Erfolg Ihrer gemeinnützigen Internatsberatungsstelle?

Uns ist es zunächst wichtig, Ratsuchenden möglichst umfangreiche Informationen an die Hand zu geben, damit sie eine sachgerechte Entscheidung pro oder contra Internat bzw. bei konkretem Bedarf eine fundierte Auswahlentscheidung treffen können. Dies geschieht über Verzeichnisseiten, die eine allgemeine Marktübersicht vermitteln, aber auch über Themenseiten, die die Gefährdungs- und Misserfolgsrisiken eines Internatsaufenthalts ansprechen oder der Desinformation der Öffentlichkeit durch gezielte Kampagnen der Anbieterseite entgegenwirken. Schließlich stehen wir natürlich auch für die persönliche Einzelfallberatung zur Verfügung. Hier sind wir bestrebt, die Entscheidungskompetenz des Ratsuchenden zu verbessern, indem wir im Dialog klären, welche Prioritäten bei der Internatsauswahl gesetzt werden sollten bzw. nach welchen Qualitätskriterien diese erfolgen sollte.

Dass nicht jeder bereit ist, sich auf eine intensive, ergebnisoffene und kritisch-aufklärerische Beratungssituation einzulassen, und dass nicht jeder die Wahrheit hören will, müssen wir akzeptieren. Unser Erfolgskriterium oder besser der Anspruch, den wir an uns selber stellen, besteht sicherlich nicht primär darin, jeden zu überzeugen.  Letztlich sind wir der Wahrheit verpflichtet und leisten unseren Beitrag zur bildungspolitischen Meinungsbildung. Der Erfolg besteht oft schon darin, der Wahrheit im wissenschaftlichen Sinne Gehör zu verschaffen, auch gegen die Übermacht bestimmter Meinungstrends oder gezielte Medienmanipulationen.

A propos Wahrheit: Noch vor zehn Jahren sahen die Medien Internate als Auslaufmodell. Jetzt spricht man von einem „Boom“ und von „Eliteerziehung“.

Einen Boom hat es vor allem bei der Gründung von gewerbsmäßigen Vermittlungsagenturen gegeben. Da haben viele gemerkt, wie leicht es ist, aus der Krise der Internate und der Bequemlichkeit der Internatskundschaft Kapital zu schlagen. Dass sich heute ein Dutzend Provisionsvermittler auf dem Markt tummelt, spiegelt aber genau das Gegenteil von einem Boom wieder. Vor allem zahlungskräftige Kunden für sozial exklusive private Internatsschulen sind aufgrund der Verarmung des Mittelstands knapp geworden. Die Vermittlerzunft will kaufkräftige Nachfrage gezielt in die teuren Häuser lenken. Hierzu ist es notwendig, in der Öffentlichkeit eine Art Ausverkaufs-Panik zu erzeugen nach dem Motto: Luxusinternate sind der neue Trend! Eltern, seht zu, dass euer Kind auf der Überholspur bleibt und beim Run auf die besten Plätze in den Elite-Netzwerken der Reichen und Einflussreichen nicht abgehängt wird!

Aber man spricht doch zum Beispiel von einem enormen Zulauf deutscher Schüler in englischen und nordamerikanischen Internaten.

Wobei eben nicht neue Nachfrage erzeugt worden ist, sondern nur die bessere Kundschaft ins Ausland abwandert. Sie sollten mal hören, wie laut z.B. bei Salem & Co. über diese Entwicklung gejammert wird. Der England-Boom war zudem ein Reflex auf die kathastrophalen Verhältnisse in deutschen Internaten. Es verbreitete sich die Meinung, in den wesentlich strengeren Instituten der angelsächsisch geprägten Länder herrschten noch Zucht und Ordnung.

Werben aber mittlerweile nicht auch die deutschen Internate verstärkt mit strengerer Erziehung, massiven Maßnahmen gegen Aklkohol- und Drogenkonsum u.ä.m.?

Gezwungenermaßen, denn sonst wandert auch noch der Rest der betuchten Kundschaft ins Ausland ab. Der schlechte Ruf deutscher Internatsschulen kommt ja nicht von ungefähr. In den letzten dreißig bis vierzig Jahren konnten Sie permanent Lesen, dass das sog. Schülermaterial in den Internaten immer problematischer werde. Parallel dazu gab es aber auch immer schon die PR-Kampagnen nach dem Muster: Ja, früher waren Internate der letzte Ausweg bei Schul- und Erzie-hungssorgen, jetzt aber sind sie eine gute Alternative für anspruchsvolle Eltern und Schüler, denen die öffentlichen Schulen nicht mehr gut genug sind.

Ist die Kritik an der Staatsschule aber nicht auch berechtigt und tut ein wenig private Konkurrenz nicht ganz gut?

Es kommt darauf an, wie fundiert diese Kritik am öffentlichen Bildungswesen ist und wie die privaten Alternativen aussehen. In keinem Fall darf man auf Strategien hereinfallen, die lediglich privaten Wirtschaftsinteressen nutzen oder gar der Gesellschaftsveränderung im Sinne einer Refeudalisierung der Bundesrepublik dienen sollen. Wenn Sie genau hinsehen, stecken hinter den meisten Me-dienberichten über private Internatsschulen deren Verbandsvertreter oder Agenturen der Kopfgeldjäger-Zunft. Selbst in einst als unbestechlich-kritisch geltenden Presseorganen wie der „ZEIT“ oder dem „SPIEGEL“ finden Sie heute überwiegend Beiträge, die eindeutig von der Anbieterseite inspiriert sind und sich oft nur auf Informationen stützen, die aus einer Quelle stammen.

Also alles nur Lügenpropaganda, reine Meinungsmache mit unlauteren Methoden?

Die zum Teil wirklich gravierenden Probleme in den Internaten werden ja immer nur im Rückblick auf die Ver-gangenheit eingeräumt. Aktuell ist angeblich immer alles in Ordnung, bieten Internate und Privatschulen zudem die gerade passende Antwort auf jedes Problem, das die Menschen bewegt. Gilt z.B. die Staatsschule als zu streng und zu fordernd,  bieten sich private Inter-natsschulen garantiert als die beschaulichen pädagogischen Kuschelecken an. Wird laut PISA ein zu geringer Wissensstand der Schüler beklagt, stehen die Privaten sofort da als die leistungsorien-tierteren Eliteschulen. Ist von Drogen- und Disziplinproblemen in öffentlichen Lehranstalten die Rede, schon loben sich Privatinstitute als den Ort, wo man seinen Nachwuchs vor allem Bösen die-ser Welt in Sicherheit bringen kann.

Wenn Sie diese stereotypen Spielchen über Jahrzehnte mitverfolgt haben, finden Sie das alles nur noch lächerlich. Das öffentliche Bildungswesen ist bei weitem nicht so schlecht wie es von einer käuflichen Journaille heruntergeschrieben wird. Und private Internatsschulen hatten und haben so viele eigene Probleme, dass sie sich mit Eigenlob oder Selbstbeweihräucherung besser ein wenig  zurückhalten sollten.

Wer im Glashaus sitzt...

Eben. Allein wenn man mal unter dem Aspekt „Verfassungswidrige Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern“ genauer hinschauen würde, wären viele dieser Reichekinderverwahranstalten sofort weg von dem Fenster, aus dem sie sich jetzt so vorlaut heraushängen bzw. aus dem seit Jahren die großen Fensterreden über „Disziplin“, „Führung“ usw. gehalten werden.

Sie spielen auf den ehemaligen Leiter der Schule Schloss Salem und seine Bücher „Lob der Disziplin“ und „Von der Pflicht zu führen“ an?

Vielleicht hat man Buebs Thesen zu viel Bedeutung beigemessen. Salem war ja zu keinem Zeitpunkt seiner Geschichte das, was es zu sein vorgab. Von daher ist es eine typische Ausgeburt der „idealistischen Pädagogik“, in der „die Widersprüche nur so aufeinanderkrachen“, wie das der Altsalemer, Autor und ehemalige Fernsehkommissar Jochen Senf ausgedrückt hat. Solche von Extremen geprägten Milieus sind keine geeigneten Orte für eine gute Erziehung und schon gar nicht zur Heranbildung einer Charakterelite. Ein Internat von der Größe Salems ist mit fast 700 Belegplätzen an vier Standorten nach organisationswissenschaftlichen und sozialpädagogischen Kriterien absolut unregierbar, eine monströse Fehlkonstruktion. Erst werden Strukturen geschaffen, die niemand mehr in den Griff bekommt, und an-schließend setzt man dann markige Streitschriften in Umlauf, in denen nach Disziplin und den preußischen Tugenden Gerufen wird, um Probleme zu lösen, die man ohne ein Salem in dieser Form gar nicht hätte.

Aber die Thesen Buebs finden doch allgemein viel Zustimmung!?

Die meisten, die da zustimmen, sind vermutlich weder Pädagogen noch Sozialwissen- schaftler . Deshalb spreche ich ja von pädagogischer Triviallliteratur. Die beteiligt sich nämlich nicht am fachwissenschaftlichen Diskurs, sondern spricht mit Zeitgeistthemen das Bauchgefühl an. Nicht zufällig fühlte sich der Hannoveraner Erziehungswissenschaftler Wolfgang Bergmann, einer der schärfsten Kritiker Buebs,  bei der Lektüre von „Lob der Disziplin“ an die Courts-Mahler-Romane im Bücherschrank seiner Eltern erinnert. Allein wenn man die zahlreichen Interviews nachliest, in denen Herr Bueb seine Ansichten verteidigt, stellt man eines fest: In Salem gab es immer zu wenig Disziplin und es wurde zu wenig geführt. So ist es auch heute noch. Nicht einmal der Bueb’sche Hund ist nach eigenem öffentlichen Eingeständnis seines Herrchens wohlerzogen, obwohl Bueb die Prinzipien der Hundedressur als durchaus stilbildend für die Kindererziehung empfindet. Da hat’s wohl einer nicht gekonnt und schreibt jetzt mutige Bücher, in denen die ungelösten Probleme der Internatsschule Schloss Salem als Analyse gesamtgesellschaftlicher Probleme ausgegeben werden.

Wie schätzen Sie die aktuelle Situation und die Zukunft der Internate in Deutschland ein?

Das Internatsangebot hat sich stark ausdifferenziert. Allgemeine Aussagen werden daher immer schwieriger. Es gibt das Gros der traditionellen Internate. Die haben heute die  Probleme gleichen  wie vor zehn, zwanzig, dreißig oder vierzig Jahren. Diese Probleme werden sich noch verschärfen, denn bei allgemein sinkenden Schülerzahlen und rückläufiger Kaufkraft wird sich der Anteil der Problemkinder noch dramatisch erhöhen. Da kann man von Elite schwafeln wie man will. Wer von der privaten Nachfrage abhängig ist wie Salem und Co., muss auch die Nachfragemotive der Kundschaft akzeptieren. Mit der Eliteschul-Propaganda der letzten Jahre haben die sich aber nicht verändert. Man hat nur den Counter der Geschichte willkürlich auf Null gestellt. Jetzt sind wir wieder bei den idealistischen Phrasen der Gründungsjahre. Da kann der Prozess der Desillusionierung durch die Realität ja von vorn beginnen.

Neben diesen traditionellen Internaten stehen aber auch Neugründungen unterschied- lichster Art: Sozialtherapeutische Internate für Verhaltensauffällige, Klein-Internate, die familiäre Strukturen bieten, Spezialschulen für Hochbegabte bzw. hoch Befähigte in staatlicher Trägerschaft, die sich die BewerberInnen unabhängig vom Einkommen der Eltern allein nach der Eignung aussuchen können, Betreuungseinrichtungen für Leistungssportler an den Eliteschulen des Sports, die nur noch so viele Belegplätze schaffen wie geeignete Bewerber zur Verfügung stehen. Unsere Arbeit als Internatsberater wird hierdurch teilweise erleichtert. Es wird in Zukunft vielleicht besser gelingen, Kinder und Jugendliche zielgenauer in Einrichtungen zu platzieren, ohne zu viele Kompromisse eingehen zu müssen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellten Carola Heine und Utz Burmeister

©  copyright: AVIB gemn. e.V.

 

   
 
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