http://www.zeit.de/2010/12/Reformpaedagogik

Reformpädagogik:

Fatale Kameradschaft

Hat die Reformpädagogik von jeher ein Milieu kultiviert, das Missbrauch begünstigt? In jedem Fall schuf sie neue Autoritäten, die ihrem eigenen Sittenkodex folgten.

Nun weiß wohl fast jeder, dass Gerold Becker, der ehemalige Leiter der Odenwaldschule, schwere Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs von Schülern auf sich zieht, und dem angesehenen Pädagogen Hartmut von Hentig fällt dazu ein, nach den Verführungsabsichten der Becker anvertrauten Jugendlichen zu fragen. Jetzt wird die Reformpädagogik, zu deren führenden Repräsentanten Becker und Hentig zählen, unter eine Art Generalverdacht gestellt: Hat diese Erziehungsbewegung, die Ende des 19. Jahrhunderts entstand, von jeher ein Bildungsmilieu kultiviert, das Missbrauch begünstigt? Zieht die Reformpädagogik etwa seit ihren Anfängen solche Erzieher an, die für Eingriffe in die Intimsphäre der Schüler anfällig sind?

Antworten auf diese Fragen bietet vielleicht ein Blick in die wilhelminische Ära, in der die Reformpädagogik unter eigentümlichen Bedingungen entwickelt und erstmals erprobt wurde. Und dabei zeigt sich ein Bild, in dem reformorientierte Pädagogen gegen den Drill einer militarisierten Obrigkeitsgesellschaft ihrerseits eine charismatische Autorität von Erziehern einsetzten, die auch illiberal und antibürgerlich geprägt waren. Das wilhelminische Kaiserreich war ein Staat, der rückständig war und zugleich modern, und in dieser Mischung glich ihm paradoxerweise sein Gegenprogramm: die Reformpädagogik.

Das Kaiserreich war, wie der Reichskanzler, Fürst Otto von Bismarck, stolz sagte, in der Dekade vor 1871 »durch Eisen und Blut« in Kriegen gegen Dänemark, Österreich und Frankreich erkämpft worden. Nicht die Liberalen, nicht die demokratisch gewählten Repräsentanten des deutschen Volkes hatten nach dem hoffnungsvollen Auftakt der 1848er-Revolution im Parlament der Frankfurter Paulskirche den Deutschen Bund reformiert, sondern das schon 1849 zur Unterdrückung sächsischer oder badischer Bürger aufgebotene preußische Heer schmiedete in den 1860er Jahren ein Deutschland, in dem das Militär eine entscheidende Macht war. Es war im wilhelminischen Kaiserreich in jedem Fall geboten, ein gehorsamer und Drill akzeptierender Untertan zu sein.

Erzogen wurden die in dieses Reich hineingeborenen Deutschen nun in Schulen, die ein wesentlicher Bestandteil der politisch-sozialen Ordnung waren. Das Kaiserreich war ein regelrechter Schulstaat, denn der von Preußen geprägte Obrigkeitsstaat setzte im Bildungswesen die Rahmenbedingungen, definierte die Lerninhalte, prüfte das Lehrpersonal. Die Schulbehörden auch der anderen deutschen Länder hielten daran fest, in der Volksschule nur ein sehr begrenztes Wissen und rigorose Disziplin zu vermitteln.

Dementsprechend waren die Lehrer in erster Linie Unterrichtsbeamte, die ständig behördlichem Zweifel an ihrer Kompetenz und ihrer konservativ-monarchischen Staatsloyalität unterworfen blieben. Selbst die Gymnasien waren trotz ihres viel umfangreicheren Fächerkanons, der neben der humanistischen Bildung zunehmend naturwissenschaftlich-technische Wissensgebiete beinhaltete, pflichtbewusste Staatsschulen. Die Freiheit der staatlichen Anstalten, neue pädagogische Wege zu erkunden, war stark eingeschränkt. Das prägte die Mentalität der Lehrer nachhaltig: Eindrücklich haben Autoren wie Hermann Hesse oder Heinrich Mann beschrieben, wie hart, taktlos oder pedantisch allzu viele Lehrer der wilhelminischen Welt waren, ohne Sympathie oder Sinn für die Nöte und Interessen ihrer Schüler, nur Examensweisheit abfragend, niemals die erwachende Selbstständigkeit der Jugend berücksichtigend. 

Der unerhörte Drang ins Freie und ein enger Untertanengeist

Ausgerechnet unter der Aufsicht dieses verknöcherten Schul- und Militärstaates vollzog sich zugleich ein gewaltiger gesellschaftlicher Umbruch, der Deutschland mit rasantem Tempo in die Moderne katapultierte. Denn einerseits wurden nun – unter den wachsamen Augen des Staates – eben doch viele Forderungen der Liberalen Wirklichkeit. So garantierte die neue Reichsverfassung den Juden endlich ihre volle bürgerlich-rechtliche Gleichstellung. Neue politische Parteien formierten sich, die mehr und mehr Menschen, auch Arbeitern, im Rahmen der jetzt regelmäßig stattfindenden Reichstagswahlen die politische Teilhabe ermöglichten.

Auch wenn das Parlament in seinen Rechten und Wirkungsmöglichkeiten beschnitten blieb, konnte der Kaiser die Anliegen der Abgeordneten immer weniger ignorieren. Frauen durften zwar noch nicht wählen, doch kämpften sie unüberhörbar für ihre Rechte, gerade auch auf dem Gebiet des Bildungswesens: 1896 bestanden die ersten Mädchen ihr Abitur. Die Sexualmoral freilich blieb der Tradition verhaftet, das Geschlechtliche als Geheimnis stillgeschwiegen, und offen praktizierte Homosexualität galt nach dem Reichsstrafgesetzbuch gar als widernatürliche, mit Gefängnis zu ahndende Straftat.

Einen außerordentlich wichtigen Anstoß für die dynamisch fortschreitende Liberalisierung der Gesellschaft gab zudem die zunehmend für den Welthandel geöffnete kapitalistische Wirtschaft. Auch die mit den neuen ökonomischen Praktiken einhergehende Industrialisierung Deutschlands trug dazu bei, dass die Gesellschaft immer stärker in Bewegung geriet. Neue Technologien, wie das in den 1880er Jahren Einzug haltende Telefon, erleichterten die Fernkommunikation. Das Eisenbahnnetz wurde ausgeweitet, S-Bahnen beschleunigten den Verkehr in den Großstädten, deren Bevölkerungszahl in stetig verknappten Räumen völlig neue Dimensionen erlangte.

Was dieser Gesellschaft somit bis zur Jahrhundertwende ihren Charakter verlieh, war eine sonderbare Mischung aus Modernität und Rückständigkeit, aus weltzugewandtem Wirtschaften und chauvinistischem Militarismus, aus einem unerhörten Drang ins Freie und engem Untertanengeist, aus Laisser-faire und Zwang. Dieser seltsame Zwiespalt führte dazu, dass sich viele Deutsche im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht recht wohl in ihrer Haut fühlten und eine merkwürdige intellektuelle und emotionale Unausgeglichenheit in sich verspürten, die sie nach Möglichkeit wieder ins Lot zu bringen trachteten. Immer ging es dabei um die Frage, welches Maß an Individualität, Freiheit, Moderne, Fortschritt erwünscht oder zeitgemäß war und welches Quantum an Zucht, Ordnung, Autorität unverzichtbar blieb.

Auch eine neue Generation von Pädagogen blieb von jenem allenthalben gefühlten und beklagten Unbehagen an den Ambivalenzen der neuen Zeit nicht unberührt. Manche, wie der Hamburger Kunsthallenleiter Alfred Lichtwark, suchten seit der Mitte der 1890er Jahre der Kunsterziehung neue Geltung zu verschaffen, um auf kreative Weise eine neue gesellschaftliche Ganzheitlichkeit erlebbar zu machen. Andere, wie die jungen Lehrer Hermann Lietz, Martin Luserke, Gustav Wyneken und Paul Geheeb, setzten eher darauf, mit völlig neuen Erziehungsversuchen auf dem Lande die Utopie einer besseren Gesellschaft und Schule prototypisch vorzuleben.

In ihren privaten Landschulen, die sie zwischen 1898 und 1910 in Ilsenburg, Haubinda, Wickersdorf, Schloß Bieberstein und Ober-Hambach im Odenwald gründeten, erteilten diese vier pädagogischen Weggefährten den distanzierten, autoritären und mechanischen Erziehungsmethoden des Wilhelminismus eine deutliche Absage. Vielmehr wollten sie, wie Geheeb erläuterte, dass Lehrer und Schüler »natürlich und unbefangen miteinander leben«, ja durch ein partnerschaftliches Verhältnis »innige persönliche Beziehungen« pflegen lernten. Auch überließen sie ihren Schülern, die keine Jahrgangsklassen durchlaufen mussten und bis in den Nachmittag hinein lernen durften, die weitgehend selbstständige Auswahl ihres Fächerkanons und Kursprogramms, zu dem auch Radtouren, Arbeiten in der Natur, musische und handwerkliche Aktivitäten, aber auch eine möglichst unbefangene Sexualerziehung zählten. All diese Neuerungen glückten offenkundig so sehr, dass die Landerziehungsheim-Bewegung rasch zur Hauptströmung der Reformpädagogik wurde.

Der Schulleiter wollte das »gesamte Leben« auf »völlig neue Basis« stellen

Doch Lietz, Luserke, Wyneken und Geheeb wandten sich nicht nur gegen die wilhelminische Starre, sie entwarfen auch ein Gegenprogramm zur heraufziehenden bürgerlich-liberalen Moderne, deren Anonymität, Hektik, Nervosität, Reizüberflutung, Konsumorientierung, Dreck und Individualitätsstreben sie nicht minder verabscheuten. Paul Geheeb, den Gründer der Odenwaldschule, schauderte angesichts der »Übel der Zivilisation«, er versuchte, »allem, was jeweils ›modern‹ genannt wird, souverän gegenüberzustehen«. Und wieder schien ihm und den anderen Reformpädagogen der Landschulheim-Bewegung der Aufbau einer neuen Lebensgemeinschaft, die Entwicklung eines engen persönlichen Verhältnisses von charismatischen Lehrern zu ihren Schülern, der am besten geeignete Weg zu sein, einer in der modernen Welt zu beobachtenden »Entfremdung« der Menschen vom Leben entgegenzuwirken.

Hochproblematisch war bei all diesen Bestrebungen allerdings, dass die neue Form der »Kameradschaft«, die Geheeb als einzig wirksames Heilmittel gegen sämtliche Übel der altwilhelminischen oder neubürgerlichen Gesellschaft beschwor, als geschlossenes System gedacht war, das alle Aktivitäten des Lernens, Arbeitens, Wohnens und der Erholung unter dem schirmenden Dach des Landschulheims aufeinander bezog und vereinte. Auch wollte Geheeb ein wirklicher »Führer« sein, der die Schulgemeinde so zu leiten suchte, dass das »gesamte Leben« der Lehrer und Schüler dabei auf eine »völlig neue« Basis gestellt werden konnte. Ganz ausdrücklich interessierten ihn als Schulleiter die dort zusammenkommenden Menschen in der »Totalität« ihrer Lebensbezüge.

Gustav Wyneken, der zwischen Lehrern und Schülern nun auch einen »pädagogischen Eros« zum Klingen bringen wollte, verstieg sich bei seinem Entwurf eines neuen Gemeinschaftslebens dazu, »von ganz woanders her« den Maßstab seines Handelns nehmen zu sollen als »aus dem Tagesbewusstsein der Menge«. Als er gemäß den Regeln seines selbst gewählten Sittenkodexes Schüler nackt umarmte und wegen sexuellen Missbrauchs zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde, bekräftigte er wie zum Trotz, dass er sich »von den Satzungen und Wertungen des geltenden Sittengesetzes unabhängig« fühle. Für Zuspruch von jenen Reformpädagogen, die ihm die Treue hielten, bedankte er sich 1920 mit der aufschlussreichen Aussage, dass sich einander zugetane Lehrer und Schüler »auf einer höheren Ebene« begegnen müssten »als Strafrecht und Moral«.

Zurück zum Jahr 2010: Die Reformpädagogik verfügt heute unzweifelhaft über großartige, kreative und befreiende Lehr- und Lerntraditionen, die in einer schwierigen Zeit der Zerrissenheit entwickelt wurden, jedoch nach wie vor einen reichen Schatz an inspirierenden und gültigen Unterrichtserfahrungen bereithalten. Einhalt muss jedoch geboten werden, wenn Reformpädagogen ein ganzheitliches Gemeinschaftsleben propagieren – noch dazu als Mittel zur Überwindung der angeblich so kalten und öden bürgerlichen Moral der Moderne –, das elementare Gebote des Schutzes der sexuellen Integrität und körperlichen Unversehrtheit von Kindern und Jugendlichen missachtet. Sexueller Missbrauch ist unter keinen Umständen durch irgendeine »höhere Moral« zu rechtfertigen. Doch gilt dies selbstverständlich nicht nur für reformpädagogische Erzieher und ihre Zöglinge, sondern für jeden anderen Ort, an dem Lehrer und Schüler, Erwachsene und Minderjährige, sich vertrauensvoll nahekommen.

Jürgen Overhoff lehrt an der Universität Hamburg Geschichte und Historische Pädagogik; zuletzt erschien von ihm das Buch »Vom Glück, lernen zu dürfen«

 

   
 
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