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FOCUS Magazin | Nr. 11 (2010)

Deutschland:

Wenn die Insel zur Hölle wird

Montag 15.03.2010 · von FOCUS-SCHULE-Autorin Barbara Esser, FOCUS-Redakteur Herbert Reinke-Nobbe und FOCUS-Korrespondent Marco Wisniewski

Tatort Internat: Die abgeschottete Welt und der 24-Stunden-Kontakt zwischen Lehrer und Schüler begünstigen offenbar sexuellen Missbrauch

 
Die Berliner nennen es liebevoll Gartenhaus. Gemeint ist der rückwärtige Seitenflügel von Altbauten in der Bundeshauptstadt. In der dritten Etage eines gediegenen Refugiums am Kurfürstendamm lebt der Reformpädagoge Hartmut von Hentig. Eine Wendeltreppe im Wohnzimmer führt direkt in die darüberliegende Wohnung, in der sein Lebensgefährte Gerold Becker wohnt.

Becker leitete von 1971 bis 1985 die Odenwaldschule im südhessischen Heppenheim. Die Eliteschule, Vorzeigeobjekt von Hentigs Reformpädagogik, war offenbar über Jahrzehnte ein Ort systematischer abscheulicher Verbrechen. Acht Lehrer sollen hier zwischen 1966 und 1991 mehr als 30 Schüler sexuell missbraucht haben. Einer der Hauptbeschuldigten ist Becker. Der könne nichts Böses getan haben, meint Hentig und behauptet gar, es könnte allenfalls ein Schüler den Lehrer Becker irgendwie verführt haben. Den Vorwurf, Mitwisser der sexuellen Entgleisungen gewesen zu sein, weist der 84-jährige Vorzeige-Pädagoge, der im Beirat der Humanistischen Union sitzt, vehement von sich.

Die Enthüllungen über Missbrauchsfälle reißen nicht ab. Fast täglich melden sich Schüler und berichten von sexuellen Übergriffen und Gewaltorgien in ihren Schulen. Es begann mit dem katholischen Canisius-Kolleg, es folgten Ettal, die Regensburger Domspatzen, aber auch evangelische Einrichtungen – und jetzt die nicht konfessionelle Odenwaldschule. In etwa 30 der 300 Internate in Deutschland wurden Kinder von ihren Lehrern begrabscht, verprügelt oder missbraucht. „Es betrifft alle Internate“, behauptet gar Volker Ladenthin, Professor am Institut für Erziehungswissenschaft an der Universität Bonn. „Auch die vermeintlich besten“, fügt ein ehemaliger Schulleiter, der anonym bleiben möchte, hinzu. „Wenn man da graben würde, kämen Tausende Fälle hervor.“

Bis vor Kurzem hatte jedoch kaum jemand außerhalb der Internatsmauern von Missbrauchsfällen gewusst. Und drinnen herrschte offenbar das Gesetz des Schweigens. „Das Internat ist eine abgeschottete große Familie“, weiß der Münchner Rechtsanwalt Thomas Pfister, der als Sonderbeauftragter der Kirche die Vorfälle im Kloster Ettal untersucht hat. Jürgen Oelkers, Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Zürich, spricht von einem problematischen „Inseldasein“: „Die Schüler sind abgeschlossen von der Welt und ihren Lehrern ausgeliefert.“

Dieses Unbeobachtetsein, die geringe Gefahr, strafrechtlich belangt zu werden, die große Zahl potenzieller Opfer, all das zieht offenbar Menschen mit pädophilen Neigungen an. Gerade Anfang der 80er-Jahre, als die Internate vor großen Personalproblemen standen, „haben sich gezielt homosexuelle Päderasten beworben“, erklärt Ulrich Lange, Internatevermittler bei der Arbeitsgemeinschaft Verbraucherschutz im Bildungs- und Erziehungswesen (AVIB). „Die Schulen nahmen, wen sie kriegen konnten“, so Lange, „wer aufflog, wurde an ein anderes Internat versetzt.“

Abnorme Erzieher wissen genau, wer für ihre Neigungen geeignet ist. Sie bevorzugen Kinder, die aus problematischen Elternhäusern kommen und daher ein größeres Bedürfnis an Nähe haben. „Schüler brauchen diese Nähe“, weiß der Bildungshistoriker Heinz-Elmar Tenorth von der Berliner Humboldt-Universität, „sie muss aber frei sein von sexuellen Untertönen.“

Genau diese Trennung macht es so schwer. Schon Robert Musil beschreibt in seinen „Verwirrungen des Zöglings Törleß“, erschienen 1906, sowohl die strikte Hierarchie im Internat, unter der besonders die Schwächeren und Sensibleren litten, als auch die erotische Atmosphäre hinter den dunklen Mauern. Viele Dichter und Denker verbrachten zumindest einen Teil ihrer Schulzeit in solchen Instituten und empfanden die strenge Disziplin als grausam. Hermann Hesse beispielsweise lernte am evangelischen Seminar Maulbronn. Er quälte sich durchs Schuljahr, floh schließlich und verarbeitete seine Erfahrungen in dem Roman „Unterm Rad“. Dass Leben und Lernen im Internat nach wie vor nicht einfach ist, gesteht der Maulbronner Seminarleiter Tobias Kuenzlen ein. „Ein Internat ist ein Mikrokosmos, in dem leicht eigene Regeln und Gesetze den Kontakt zur Wirklichkeit vergessen lassen.“

Das Zusammenleben in der abgeschotteten Welt kann zu mafiösen Strukturen des Schweigens führen. Gerold Beckers Nachfolger an der Odenwaldschule, Wolfgang Harder, streitet ab, dass er von einer Schulangestellten über Missbrauchsvorwürfe gegen Becker informiert worden war, und schaltete einen Anwalt ein. Denn die heutige Schulleiterin bezichtigt ihn des „aktiven Täterschutzes“. Dem Ettaler Sonderermittler Pfister vertrauten sich gerade mal drei von etwa 100 Patres an. Selbst der Abt und sein Stellvertreter hatten angeblich keine Ahnung von den Übergriffen. „Dabei wusste hier jeder von den Züchtigungen und dem sexuellen Missbrauch“, empört sich Pfister. Im Kloster, so der Anwalt, herrsche ein „System der systematischen Beichte“. Ein Pater beichtet dem anderen seine Sünden, doch dieser ist zur Verschwiegenheit verpflichtet.

Schweigen und Vertuschen führten dazu, dass Jahrzehnte zurückliegende Missbrauchsfälle erst jetzt bekannt wurden. Die CSU fordert deshalb eine längere Verjährungsfrist bei sexuellem Missbrauch – 30 Jahre statt der bisherigen zehn, gerechnet vom 18. Geburtstag des Opfers an. Union, FDP und SPD setzen sich zudem für eine Schadensersatz-Verjährungsfrist von derzeit drei auf 30 Jahre ein.

Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) mahnt eine engere Zusammenarbeit der katholischen Kirche mit der Justiz an. Die Kirche will jetzt angesichts der Missbrauchswelle der Staatsanwaltschaft Tür und Tor ihrer sonst verschlossenen Häuser öffnen. Internatsleiter sprechen sich für einen Missbrauchsbeauftragten für alle deutschen Internate aus.

Ein Problem der Pädagogen ist die ständige Gratwanderung zwischen Nähe und Distanz zu den Schülern. Erziehungswissenschaftler Ladenthin fordert: „Die Erzieher brauchen andere Qualifikationen.“ Bisher gebe es für sie weder Eignungstest noch Qualitätskriterien. Und Seminarleiter Tobias Kuenzlen empfiehlt die Goldene Regel von Maulbronn: Mache niemals eine Bemerkung über den Körper eines Schülers.

10% aller Internate in Deutschland sind bisher von Missbrauchsfällen betroffen. Fast täglich kommen neue hinzu

 

   
 
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