Ein Fehler im Code

von Richard Preston


Was kann eine seltene Störung uns über menschliches Verhalten sagen?
Eines Tages im September 1962 ist eine Frau, die im folgenden Deborah Morlen
genannt wird, mit ihrem 4 ½ Jahre alten Sohn Matthew in die pediatrische
Notfallstation des Johns Hopkins Hospitals in Baltimore gekommen. Er war spastisch und konnte weder gehen noch sitzen; als Kind wurden ihm Zerebralparese und Entwicklungsstörung diagnostiziert. Die Notfallstation befand sich im Harret Lane Heim für kranke Kinder, einem alten Backsteinhaus im Zentrum des Johns Hopkins Komplexes, wo die Kinderärztin Nancy Esterly Matthew sah. „Sein Urin hatte eine ungewöhnliche Farbe und er hatte Sand in der Windel“, erzählte Frau Molden Frau Esterly. Esterly wechselte dem Jungen die Windel. Sie war tief hellorange mit einem pinken Stich. In der Windel fühlte sie Sand. Sie hatte keine Ahnung, was es war, außer, dass die pinke Farbe wie Blut aussah. Sie erfuhr von Frau Molden, dass Matthew einen älteren Bruder, Harold, hatte, der auch spastisch und geistig zurückgeblieben war. Harold lebte im Rosewood State Hospital, einer Einrichtung für behinderte Kinder außerhalb von Baltimore, während Matthew zu Hause wohnte.
Da beide Brüder unter der gleichen Krankheit zu leiden schienen, dachte Esterly, dass es sich um einen genetischen Defekt handelte, allerdings keinen, von dem sie zuvor gehört hatte. Esterly bemerkte zudem, dass Matthew Handschuhe trug, obwohl es Sommer war. Sie nahm den kleinen Jungen ins Krankenhaus auf.
Esterly nahm eine Probe von Matthews Urin und sah sie sich mit einer Praktikantin
unter dem Mikroskop an. Sie fanden unzählige Kristalle, die glasklar waren und
aussahen, wie ein Bündel Nadeln oder wie ein explodierendes Feuerwerk. Sie waren scharf und es war klar, dass sie den Urintrakt des Jungen aufschlitzten und Blutungen verursachten. Esterly und die Praktikantin blätterten durch verschiedene Kristallfotographien eines medizinischen Lehrbuches. Die Praktikantin fragte, ob die Kristalle vielleicht Harnsäure sein könnten, ein Abfallprodukt, welches von den Nieren ausgeschieden wird; Cystein, eine Aminosäure, die Nierensteine formen kann, schien allerdings die wahrscheinlichste Lösung. Esterly brauchte eine Bestätigung der Diagnose und brachte die Probe zu William L. Nyhan, ein Kinderarzt und Wissenschaftler, der im Obergeschoss sein Labor besaß. „Bill Nyhan war der Guru des Stoffwechselforschung“, erzählte Esterly mir. Nyhan, der in seinen Dreißigern war, erforschte, wie Krebszellen Aminosäuren in ihrem Stoffwechsel verwendeten, um eine Möglichkeit zu finden, Krebs bei Kindern zu bekämpfen. „Es war eines meiner unmöglichen Projekte“, sagte er mir kürzlich.
Nyhan ist mittlerweile Professor für Kinderheilkunde an der University of California
San Diego School of Medicine. „Ich liebe meine Arbeit mit Kindern, aber mich mit
Kinder-Krebs zu beschäftigen, hat mich depressiv, traurig und, ehrlich gesagt, wütend gemacht“, sagte er. Nyhan testete Matthews Urin einige Male mit seinen
selbstgebauten Geräten. Die Kristalle waren Harnsäure. Hohe Konzentrationen von Harnsäure im menschlichen Blut können zu Gicht führen, einer schmerzhaften
Krankheit, in der Kristalle in den Gelenken und Extremitäten, vor allem im großen
Zeh, wachsen können. Gicht war schon zu Zeiten von Hippokrates bekannt und kam hauptsächlich unter alten Männern vor. Der betroffene Patient war allerdings ein kleiner Junge. Nyhan hatte einen Medizinstudenten in seinem Labor namens Michael Lesch, mit dem er zusammen hinunterging.

Matthew lag im Bett in einer offenen Station in der zweiten Etage des Harriet Lane
Heims. Er war ein Energiebündel in der Station, ein helläugiges Kind mit einem
Körper, der außer Rand und Band schien. Die Pfleger hatten seine Arme und Beine
mit weißen Stofftüchern an den Bettkasten gebunden, um ihn von Zerstörung
abzuhalten, und seine Hände waren mit mehreren Lagen von Verbandsmull
umwickelt; sie sahen wie weiße Quasten aus. Krankenschwestern sorgten sich um den Jungen. „Er wusste, dass ich Arzt war und er wusste, wer er war. Er war sich
bewusst“, sagte Nyhan. Matthew begrüßte Lesch und Nyhan freundlich, aber seine
Worte waren ziemlich unverständlich: er hatte Dysarthria, eine Unfähigkeit, die
Sprechmuskeln zu kontrollieren. Sie bemerkten Narben und frische Wunden um
seinen Mund herum. Sie inspizierten Matthews Füße. Kein Anzeichen von Gicht. Dann wurden die Arme und Beine des Jungen los gebunden, und Lesch und Nyhan sahen ein komplexes Muster von steifen und unfreiwilligen Bewegungen, was auf Dystonie hinweist.
Nyhan hatte die Verbände von den Händen des Jungen genommen.
Matthew sah verängstigt aus. Er bat Nyhan aufzuhören und fing an zu weinen. Als die letzte Schicht abgenommen war, sahen sie, dass einige Fingerspitzen des Jungen fehlten. Matthew fing an zu schreien und stopfte sich die Hände in den Mund. Geschockt stellte Nyhan fest, dass der Junge sich Teile seiner Finger abgebissen hatte. Er schien sich auch Teile seiner Lippen abgebissen zu haben.
„Das Kind hat mich wirklich verblüfft“ sagte Nyhan. „Als wir ihn sahen, wusste ich,
dass das ein Syndrom war und dass alle Sachen, die wir sahen, miteinander verbunden waren.“

Lesch und Nyhan fingen an, die Station regelmäßig zu besuchen. Manchmal griff
Matthew nach Nyhans Brille und warf sie durch den Raum. Er konnte kraftvoll
werfen und anscheinend auch kontrolliert und es schien böswillig. „Entschuldige! Es tut mir leid!“, rief Matthew jedes mal, wenn Nyhan sich seine Brille zurückholte. Die Ärzte überredeten Mrs. Morlen, ihren älteren Sohn ins Krankenhaus zu bringen. Harold hatte seine Finger noch schlimmer als Matthew abgebissen, und wie sich
herausstellte hatte er sich seine Oberlippe abgebissen. Die Beine des Jungen scherten aus und stießen einen Arm und das andere Bein weg, wie ein Fächer. Die Ärzte fanden heraus, dass die Morlen-Brüder viel mehr Harnsäure in ihrem Blut hatten als normale Kinder.
Nyhan und Lesch besuchten das Haus der Morlens, ein Reihenhaus in einer
Arbeiterklassensiedlung in Ost-Baltimore, wo Matthew mit seiner Mutter und
Großmutter lebte. „Er war ein akzeptiertes Mitglied des kleinen Haushalts und sie
gingen entspannt mit seiner Behinderung um“, sagte Nyhan. Die Frauen hatten eine Methode gefunden, ihn davon abzuhalten, in seine Hände zu beißen und legten ihm einen gepolsterten Besenstiel über seine Schultern, an welchen sie seine Hände wie bei einer Vogelscheuche banden. Die Familie nannte ihn den „stringlyjack“. Matthew bat oft darum, ihn zu tragen.
Nyhan und Lesch merkten, dass sie die Morlen-Brüder mochten. Lesch, der jetzt
Dekan des Departments der Medizin am St. Luke‘s-Roosevelt Krankenhaus in New
York City ist, sagte: „Matthew und Harold waren sehr bedürftige Kinder. Mir hat es
Spaß gemacht, bei ihnen zu sein.“

Zwei Jahre nach dem ersten Treffen mit Matthew Morlen, erschien die erste
Publikation von Nyhan und Lesch, die die Krankheit beschrieb, welche das Lesch-
Nyhan Syndrom genannt wurde. Umgehend sendeten Ärzte Patienten zu Nyhan.
Wenige Ärzte hatten eine Person mit dem Lesch-Nyhan Syndrom überhaupt gesehen, und Jungen mit der Krankheit wird oft die falsche Diagnose mit zerebraler Lähmung gestellt. (Mädchen bekommen diese Krankheit offensichtlich nicht.). Nyhan selbst fand einige an Lesch-Nyhan erkrankte Jungen, während seiner Visiten in staatlichen Einrichtungen für entwicklungsgehemmte Menschen. Als ich ihn fragte, wie lang er üblicherweise für die Diagnose brauchte, antwortete er mir: „Sekunden. Du gehst in ein großes Zimmer und siehst ein Meer von bleichen Gesichtern. Auf einmal merkst du, dass dich dieses Kind mit klaren Augen anblickt. Er ist sich deiner sehr wohl
bewusst. Er nimmt sich schnell Fremden an. Er sitzt normalerweise in einer Ecke, wo er der Zögling einer Krankenschwester ist. Und du siehst die Wunden an seinen Lippen.“

William Nyhan ist jetzt 81 Jahre alt, ein großer, rüstiger Mann mit blond-grauem Haar und blauen Augen. Er hat ein Labor mit Blick auf den Wild Canyon in der Nähe des U.C.S.D. Medical Center. Eines Tages besuchte ich ihn, zwei rotschwänzige Falken krächzten über dem Canyon und kreisten in der Luft. Seit er Lesch-Nyhan identifiziert hatte, hat er eine Reihe von vererbten Kreislaufkrankheiten (mit-)entdeckt, und
entwickelte für einige erfolgreiche Behandlungen. Er fand heraus, wie man einen
Gendefekt namens Multipler Karboxylasemangel heilt, der Säuglinge innerhalb der
ersten Lebensstunden tötet, indem er ihnen kleine Dosen Biotin, ein B-Vitamin,
verabreicht. Lesch-Nyhan hat sich jedoch als komplizierter erwiesen.
Jahrzehnte nach der Entdeckung des Lesch-Nyhan Syndroms ist es immer noch ein Geheimnis. Es ist vielleicht das beste Beispiel einer einfachen Veränderung in der menschlichen DNA, die zu einer auffallend grundlegenden Verhaltensänderung führt. 1971 prägte William Nyhan den Fachbegriff „Verhaltensphenotyp“, um
Krankheitsbilder wie das des Lesch-Nyhan Syndroms zu beschreiben. Ein Phenotyp ist ein oder eine Reihe von äußerlichen Merkmal(en), die von einem oder mehreren Genen bestimmt werden, z.b. braune Augen. Jemand, der einen Verhaltensphenotyp besitzt, zeigt ein charakteristisches Verhaltensmuster auf, dass mit einem genetischen Code verbunden werden kann. Das Lesch-Nyhan Syndrom scheint ein Fenster in eines der tiefsten Gründe der menschlichen Psyche zu sein und bietet Einblicke in die Funktionsweise des genetischen Codes, der für Denken und Persönlichkeit zuständig ist.

H. A. Jinnah, ein Neurologe am Johns Hopkins Hospital hat das Lesch-Nyhan
Syndrom seit 15 Jahren studiert. „Es ist eine furchtbare Krankheit, und ein sehr
kompliziertes Gehirnproblem“, sagte er. „Es ist auch eines der besten Modelle, die
wir haben, um die Wirkung eines Gens auf das komplexe menschliche Verhalten zu verfolgen.“
Ein Kind, das mit dem Lesch-Nyhan Syndrom geboren wird, ist zunächst normal,
entwickelt sich aber im Alter von drei Monaten zu einem so genannten „Zappelkind“ und kann weder seinen Kopf aufrecht halten noch sitzen. Seine Windeln sind möglicherweise voll von orangem Sand. Wenn der Junge seine ersten Zähne bekommt, fängt er an, sich selbst zu beißen, und schreit aus Terror und Schmerz, während er sich selbst verstümmelt. „Ich bekomme Anrufe von Eltern mitten in der Nacht, die mir sagen, ‚mein Kind zerbeißt sich selbst. Was soll ich tun?‘“, sagte Nyhan. Der Junge landet am Ende im Rollstuhl, weil er nicht gelernt hat zu gehen. Wenn er älter wird, werden seine Selbstverstümmelungen subtiler oder ausgefeilter, schwerwiegender. Er scheint von einem Teufel besessenen zu sein, der ständig nach neuen Wegen sucht, ihn zu schädigen. Er spukt, schlägt und beleidigt diejenigen, die er am liebsten mag; eine Art festzustellen, ob ein Lesch-Nyhan Patient dich nicht mag, ist, wenn er nett zu dir ist. („Ich bin einmal von Matthew verprügelt worden,“ erzählte mir Lesch. Er hat sich über den Jungen gebeugt und ihn gefragt, wie er sich fühlt, und Matthew hat ihn auf die Nase gehauen.) Er isst, was er nicht mag; er übergibt sich; er sagt ja und meint nein. Es ist Selbstbestrafung.

Ein paar hundert Jungen und Männer, die heute in den USA leben, sind auf das
Lesch-Nyhan Syndrom diagnostiziert worden. „Ich denke, ich kenne die meisten,“
sagte Nyhan. Ein Junge, bekannt als J.J., lebte ein Jahr lang in der
Forschungsabteilung von Nyhan, als er 11 Jahre alt war. Er war ein geselliges Kind, dessen Hände ihn zu hassen schienen. Mit der Zeit sind seine Finger in seinen Mund und in seine Nase gelangt und brachen und nahmen die Knochen seines Oberkiefers und Teile seiner Nase heraus. Nur noch eine Aushöhlung blieb in seinem Gesicht zurück. Er hatte sich auch einige Finger abgebissen. J.J. starb mit unter 20 Jahren;
früher starben viele Lesch-Nyhan Patienten in ihrer Kindheit oder als Jugendliche
durch Nierenversagen. (Beide Morlen-Brüder starben jung.)
Heutzutage erreichen sie die Dreißiger oder Vierziger, aber sie sind generell anfällig und sterben oft an Infektionen wie Lungenentzündung. Einmal warf ein Mann seinen Kopf mit solcher Wucht nach hinten, dass sein Hals brach.

Viele Lesch-Nyhan Patienten sterben plötzlich und oft auf unerklärliche Art und Weise. Ein Lesch-Nyhan Patient kann für Tage gesund sein und plötzlich schnellen seine Hände mit der Schnelligkeit einer Kobra in seinen Mund und er schreit um Hilfe.
Leute mit Lesch-Nyhan spüren Schmerz genauso schnell wie jeder andere, und es
gruselt sie vor der Vorstellung von verletzten Fingern oder Lippen. Es fühlt sich für
so an, als gehörten ihre Hände und ihr Mund nicht zu ihnen und seien nicht unter ihrer Kontrolle. Einige Lesch-Nyhan Patienten haben sich ihre Zungen abgebissen, andere verstümmeln sich regelmäßig selbst- sie reißen sich ein Auge aus oder stechen es sich mit einem spitzen Gegenstand aus. Wenn der Lesch-Nyhan-Teufel schläft, genießen sie die Gesellschaft anderer Leute, stehen gern im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und freunden sich leicht an. „Sie sind wirklich wundervolle Menschen, und ich denke, das ist auch Teil der Krankheit“, sagt Nyhan. Manche Lesch-Nyhan-Patienten sind kognitiv behindert, während andere definitiv intelligent sind, auch wenn deren Intelligenz nicht leicht messbar ist. „Wie misst man die Intelligenz von jemandem,
der die unwiderstehliche Versuchung verspürt, Seiten herauszureißen?“, sagt Nylan.

1967 entdeckten J. Edwin Seegmiller, ein Wissenschaftler an den National Insitutes of Health, und zwei seiner Kollegen, dass in Lesch-Nyhan-Patienten ein Protein mit dem Namen Hypoxanthin-Guanin Phosphoribosyl Tranferase, oder  HPRT, das in allenZellen vorkommt, nicht richtig funktioniert. Die Aufgabe des Enzyms ist es, DNA wiederzuverwerten. Zellen zerkleinern DNA dauernd in seine vier Bestandteile  (dargestellt mit den Buchstaben A, T, C, und G für Adenin, Thymin, Cytosin und Guanin). Dieser Prozess produziert Purine, die dazu benutzt werden können, einen neuen Code zu formen. Wenn HPRT fehlt oder nicht richtig funktioniert, sammeln sich bestimmte Purine in den menschlichen Zellen, wo sie letztendlich in Harnsäure zersetzt werden, was das Blut anreichert und im Urin kristallisiert.

In den frühen 1980ern entzifferte eine Gruppe von Wissenschaftlern, angeführt von Douglas J. Jolly und Theodore Friedmann die Buchstabensequenz im menschlichen Gen, welches die Anleitung zur Produktion von HPRT beinhaltet. Es besteht aus 675 Buchstaben, die das Protein kodieren. Im Anschluss wurde das gleiche Gen in Lesch-Nyhan-Patienten sequenziert. Jeder hatte eine Mutation in dem Gen, aber erstaunlicherweise hatte fast jeder eine andere; es ist nicht eine Mutation, die Lesch-Nyhan verursacht. Die Mutationen tauchten anscheinend in jeder Familie spontan auf. Und in den meisten Fällen bestand der Defekt nur aus der Veränderung eines Buchstabens. Bei einem amerikanischen Jungen, bekannt als D.G. war ein einziges G durch ein A ersetzt worden - einer von 3 Milliarden Buchstaben im Code des menschlichen Gens. Dadurch zerstörte er sich selbst.

Das HPRT-Gen befindet sich im X-Chromosom. Frauen haben zwei X-Chromosomen in jeder Zelle, und Männer haben ein XY-Paar. Das Lesch-Nyhan Syndrom ist eine X-chromosomale rezessive Störung. Das heißt, dass wenn ein schlechtes HPRT-Gen auf einem X-Chromosom mit einem normalen Gen auf dem anderen X-Chromosom gepaart wird, die Krankheit nicht auftritt. Eine Frau, mit einer Lesch-Nyhan-Mutation trägt das Gen nur auf einer ihrer X-Chromosomen - sie entwickelt nicht das Syndrom und alle ihre Töchter werden die 50%-ige Chance haben, das Syndrom weiter zu tragen. (Ein Beispiel für diese Art von Krankheit ist die Hämophilie, eine Form von Rot-Grün-Blindheit.)
Auch andere genetische Mutationen sind mit grundlegenden Verhaltensänderungen verbunden. Das Rett-Syndrom, das zumeist Mädchen betrifft, wird durch eine Mutation in einem Gen hervorgerufen, welches das MeCP2-Protein kodiert. Menschen mit diesem Syndrom verdrehen ihre Hände und reiben sie aneinander, als würden sie sie waschen. Kinder mit dem Williams-Syndrom haben eine elfenhafte Erscheinung, eine Vorliebe für Musik und Sprache, und sind extrem lärmempfindlich und sehr sozial. Das Williams-Syndrom wird durch die Zerstörung eines Teils des Codes des Chromosoms 7 hervorgerufen. Man ist sich jedoch immer noch nicht sicher, eine wie große Rolle Gene in Hauptverhaltensweisen wie Depression, bipolare
Störungen, und grenzpersönliche Störungen spielen. Selbst dort, wo es den Beweis für Krankenheiten in der Familiengeschichte gibt, sind sich Wissenschaftler darüber uneinig, wie ein einzelnes Gen eine solche Spannbreite von Verhaltensweisen bestimmen kann. Es gibt ungefähr 25000 aktive Gene im menschlichen Genom, jedes besitzt circa 1000-1500 Buchstaben. Man könnte sich das Genom als eine Art Klavier mit 25000 Tasten vorstellen. In manchen Fällen sind einige Tasten verstimmt, was dazu führt, dass sich die Musik falsch anhört. In anderen Fällen, entstehen Missklänge, wenn eine Taste den Geist aufgibt, oder  das gesamte Klavier zerstört sich selbst. Das Chaos, den die Lesch-Nyhan-Mutation auslöst, kann nur schwer rückgängig gemacht werden. Nyhan versuchte früh, seinen Patienten Allopurinol zu verabreichen, ein Medikament, das die Produktion von Harnsäure verhindert, dies hat jedoch die
selbstverletzenden Verhaltensweisen nicht reduziert. Es schien, als sei die Harnsäure ein anderes Symptom und nicht ein Grund des Verhaltens. Nyhan hat mit anderen Behandlungen experimentiert, wie mit leichtem Festhalten, die die Patienten sich entspannen ließen, und der Entnahme einiger Zähne. „Ich bin verschwenderisch mit diesen oberen Zähnen“, sagte Nyhan. Aber einige Zahnärzte weigerten sich, gesunde Zähne zu ziehen, selbst als ihnen das Lesch-Nyhan Syndrom erklärt wurde.
Ich sagte Nyhan, dass ich mir nicht vorstellen könnte, wie es wäre mit der Krankheit zu leben.
„Du könntest jemanden fragen, der daran leidet“, erwiderte er.
Ich traf James Elrod und Jim Murphy zum ersten Mal im Winter 1999. Sie lebten
nebeneinander in gemieteten Bungalows in Santa Cruz, Kalifornien. Elrod war
damals in seinen frühen Vierzigern, und Murphy war gerade über dreißig. (Murphy
starb 2004; Elrod, der jetzt 49 Jahre alt ist, ist einer der ältesten lebenden Menschen mit Lesch-Nyhan.) Die Männer waren Kunden der Mainstream Support, einer Firma, die mit dem Staat Kalifornien den Vertrag abschloss, Leuten mit
Entwicklungsstörungen zu helfen, in einer Kommune zu leben. Bevor James Elrod
nach Santa Cruz kam, lebte er 18 Jahre lang in einer staatlichen Einrichtung in San Jose. Murphy hatte die meiste Zeit seines Lebens in einer Einrichtung in Sonoma verbracht. Mainstream-Angestellte, auch persönliche Assistenten genannt, kümmerten sich rund um die Uhr um Elrod und Murphy, um ihnen bei ihren täglichen Aufgaben zu helfen und sicherzustellen, dass sie sich nicht selbst verletzen würden. Elrod und
Murphy hatten die Möglichkeit, ihre Assistenten einzustellen und zu kündigen und
ihre Arbeit zu dirigieren. Ein Assistent konnte eine Aufgabe jedoch verweigern, wenn diese dem Patienten Schaden zufügen würde.
Zu jener Zeit wurde Mainstream von zwei Männern namens Andy Pereira und Steve Glenn verwaltet. „James und Jim sind wirklich bodenständige, mutige Jungs“, sagte Pereira, als ich das erste Mal mit ihm sprach. „Sie sind keine süßen Typen. Sie lieben Autos und Frauen.“ Glenn sagte, dass er immer noch Schwierigkeiten hatte, sich in dem Labyrinth von Lesch-Nyhan zurecht zu finden. „Es gibt Lesch-Nyhan-Momente,
wo man denkt, dass man es überstanden hat“, sagte er. „James und Jim können dich warnen, wenn sie glauben, dass sie sich verletzen werden, aber immer, wenn sie etwas tun, musst du sie fragen, ob es James oder Jim oder Lesch-Nyhan ist.“

James Elrod hat ein quadratisches, hübsches Gesicht, das von Narben überzogen ist, und braune, überaus aufmerksame Augen. Seine Schultern und Arme sind groß und kräftig, aber der Rest seines Körpers scheint etwas zurückgeblieben. Eines Tages, als er noch nicht bei Mainstream war, ließ ein Assistent ihn für ein paar Minuten allein beim Abendbrot. Zu Elrods Schrecken, nahm seine linke Hand eine Gabel und benutzte sie, um in seine Nase zu stechen und sie auszuhöhlen; sie verstümmelte sein Gesicht. „Meine linke Seite ist meine Teufelsseite“, sagte er mir. Als ich ihn traf, trug er schwarze Motorrad-Lederhandschuhe, die von Kevlar verstärkt worden sind. Wenn er dachte, dass seine linke Hand ihm oder jemand anderem drohen würde, griff er sie oder zerquetschte sie mit seiner rechten. Er besitzt einen Pickup und seine Assistenten fahren ihn damit herum. Er verkaufte einst Blumen am Santa Cruz-Pier, und er trug Geschäftskarten mit sich, um zu erklären, dass er eine seltene Krankheit hatte, die ihn dazu brachte, sich selbst zu verletzen. „Ich habe mich auf verschiedene Art und Weise verletzt, u. a. auch meine Nase, wie Sie sehen können“, steht auf der Karte. „Ich
werde mich sogar versuchen zu verletzen, indem ich mich mit anderen Leuten
anlege.“
Eines Tages, brachte ein Mann Blumen von Elrod und sagte: „Gott segne
dich.“ „Friss Scheiße“, antwortete Elrod, und gab dem Mann seine Geschäftskarte.
Elrod war bekannt dafür, sich einfach auf die Straße zu rollen, wenn er in seinem
Rohlstuhl unterwegs war, und „Bremst, ihre Idioten! Wisst ihr nicht, dass ich Lesch-Nyhan habe?“ rief.

Elrod saß vor seinem Haus in seinem Rollstuhl, als ich ankam. Es war ein sonniger
Tag. Er bot mir an, seine rechte Hand zu schütteln. Als ich seinen Handschuh ergriff,fiel sein rechter Zeigefinger zusammen. „Sie haben meinen Finger gebrochen!“ keuchte er. Dann grinste er und erklärte, dass er diesen Finger nicht besitze. „Einige Leute werden ziemlich wütend, wenn ich das mache“, sagte er. „Kinder lieben es. Sie wollen meinen Finger noch mal brechen.“
Wir redeten für eine Weile. „Hey Richard - Gefahr“, sagte er. „Was ist los?“
Er zeigte vorsichtig auf den Bleistift, den ich benutzte, um Notizen zu machen. „Ihr Bleistift macht mir Angst. Meine Hand könnte ihn nehmen und mir ins Auge
stechen“, sagte er. „Gucken Sie sich lieber mal meinen Nachbarn an.“
Jim Murphy saß in seinem Rollstuhl am Tisch im Wohnzimmer seines Hauses, und
ein Assistent namens Michael Roth zerkleinerte gerade einen Pfannkuchen, um ihn
mit einem Löffel zu füttern. Murphy war ein knochiger Mann mit schwarzem Haar
und einem hageren, sympathischen Gesicht. Er hatte einen säuberlich gestutzten
Spitzbart und einen Bürstenschnitt, seine Augen waren schnell und sahen empfindsam aus. Seine Lippen fehlten. Zwei seiner Brüder hatten auch Lesch-Nyhan, und starben, als er noch klein war. „Jimmy wird schüchtern sein, wenn Sie ihn das erste Mal besuchen“, sagte mir eine seiner Schwestern am Telefon. Ich könnte allerdings jede Menge Beleidigungen erwarten. „Er meint es nicht so“, sagte sie. „Wenn er mich beleidigt, sage ich ihm bloß: ‚Ich liebe dich auch.‘“
An diesem Tag in Santa Cruz, starrte Murphy mich aus seinen Augenwinkeln an,
sein Kopf unfreiwillig nach hinten geworfen und weggedreht, abgestützt an ein
Kopfbrett. Seine Hände waren in einige Paar Socken gestopft, seine Brust mit einer Schnalle befestigt, um ihm im Zaum zu halten. Er fing an, mich mit zu boxen, und er trat mich. Er schien, seine Krankheit so zu erdulden, wie ein Mann, der ein wildes Pferd reitet. Der Rollstuhl wackelte.
Ich hielt mich zurück. „Schön, dich kennen zu lernen“, sagte ich.
„Fick dich! Nett, dich kennen zu lernen.“ Murphy hatte eine undeutliche, aber
angenehm klingende Stimme. Seine Worte waren schwer verständlich. Ich schaute zu Roth. „Ich bin nervös“, sagte er.
„Willst du zurückgehalten werden?“ fragte Roth. „Ja.“
Roth legte gepolsterte Handschellen, befestigt mit Klettverschluss, um Murphys
Handgelenke und Knöchel. „Ich bin auch etwas nervös,“ sagte ich und setzte mich auf die Couch. „Ist mir egal. Tschüss!“
Ich stand auf, um zu gehen. Roth erklärte mir jedoch, dass es eine dieser Lesch-Nyhan-Situationen waren, in der Worte das Gegenteil bedeuten.
Später versuchte Murphy mir zu erklären, wie man sich die Krankheit vorzustellen
hat. „Du versuchst jeden zu verscheuchen, und dann tut es dir leid, wenn du es tust“, sagte er. „Wenn du mir zu nahe kommst, könnte ich -“, sagte er; das Ende war unverständlich.
„Entschuldige, wie bitte?“
„Durchdrehen, Richard. Ich würde sagen ‚Hol mir ein Wasser‘, und dann würde ich
dir einen Faustschlag verpassen.“ Ein paar rote Boxhandschuhe hingen an der Wand. Jeden Tag legten ihn seine Assistenten auf eine Ringermatte auf dem Boden, auf der er herumrollen und sich strecken konnte und dann boxte er mit ihnen. „Ich könnte dich definitiv ausknocken“, sagte er mir. Ich zweifelte nicht daran. Über die Jahre kamen ungefähr 20 Autopsien von Lesch-Nyhan-Patienten zusammen. Ihre Gehirne schienen normal zu funktionieren. „Es ist ein Problem der Verbindungen im Gehirn“, sagte H. A. Jinnah, Neurologe von Johns Hopkins. Bei einigen Autopsien testeten die Ärzte Gehirngewebeproben, um die Anzahl von Neurotransmittern zu überprüfen - Chemikalien, die für Signale zwischen den Nervenzellen benutzt werden. In Lesch-Nyhan-Gehirnen, hatte eine zitronengroße Struktur in der Nähe des Gehirnzentrums, die Basal Ganglia genannt wird, 80% weniger Dopamine als ein normales Gehirn - ein wichtiger Neurotransmitter. Die Basal Ganglia ist durch Kreisläufe verbunden, die überall im Gehirn verlaufen und eine Reihe von Funktionen erfüllt: Bewegungskontrolle, abstraktes Denken, Augenbewegung sowie Impulskontrolle und Enthusiasmus.
„Menschen mit Lesch-Nyhan bewegen sich sehr oft unfreiwillig“, sagte Jinnah. „Es
ist so, als wenn sie zu sehr Gas geben, wenn sie versuchen etwas machen. Wenn du sie z.B. bittest, auf einen roten Ball zu gucken, fokussieren ihre Augen alles außer den roten Ball, und sie können nicht erklären warum. Dann, wenn du einen gelben Ball inihr Sichtfeld schiebst, aber nichts sagst, schauen sie den gelben Ball an. „In dem Moment, in dem du ihre Aufmerksamkeit auf ihn lenkst, gucken sie weg.“
„ Lesch-Nyhan ist am Ende eines breiten Spektrums von selbstzerstörerischem
Verhalten“, fügte Jinnah hinzu. „Wir tun alle Dinge, die schlecht für uns sind. Wir
setzen uns vor den Fernseher und essen Eis. Wir haben alle einen Antrieb zur
Selbstzerstörung. Wir können das seltsame Bedürfnis haben, in die falsche Richtung zu fahren und das Auto zu zertrümmern. „Edgar Allan Poe nannte solche
Versuchungen „den Teufel des Perversen“. Der Teufel kann in Form von Signalen aus der Basal Ganglia auftreten. Normale Menschen fühlen die Versuchung, aber folgen ihr meistens nicht. Lesch-Nyhan könnte ein Weg sein, bei dem ursprüngliche Gedanken und Ideen als Impulse aufkommen und nicht unterdrückt werden, und wie vertraut ist das Gebiet zwischen Genie und Selbstzerstörung. „Viele Leute knabbern an ihren Fingernägeln“, sagte Jinnah. „Sie sagen dir, dass es widerlich ist und dass sie es nicht wollen würden - ‚Manchmal werde ich nervös und kaue Fingernägel‘, sagen sie. Es gibt Leute, die nervös auf ihren Lippen kauen. Jetzt lass uns etwas aufdrehen:
manche Leute beißen sich in die Nagelhaut. Lass uns noch weitergehen: manche
beißen sich in ihre Nagelhaut bis sie bluten. Jetzt lass uns noch viel weitergehen.
Jemand zerbeißt sich sein Gewebe und die Fingerknochen, den ganzen Finger, und
seine Lippen. Wo in diesem Spektrum ist freier Wille?“
Irgendwie sieht das Lesch-Nyhan-Syndrom wie umgekehrtes Parkinson aus.
Menschen mit Parkinson haben Probleme, sich zu bewegen und werden hypokinetisch genannt. Lesch-Nyhan-Patienten bewegen sich zu schnell und können ihre Bewegungen nicht stoppen, wenn sie einmal angefangen haben; sie werden hyperkinetisch genannt. Weil Parkinson auch mit einem Dopaminmangel in der Basal Ganglia in Verbindung gesetzt wird, haben Wissenschaftler nach Gemeinsamkeiten der beiden untereinander gesucht.
1973 arbeitete der Wissenschaftler George Breese an der University of North Carolina School of Medicine mit Ratten, die Parkinson-Patienten nachstellten. Er injizierte neugeborenen Ratten Stoffe, die den Dopamingehalt in ihren Gehirnen veränderte, als eine seiner Ratten sich, zu seinem Erstaunen, die Klauen abbiss. Er hatte aus Versehen eine Ratte mit Lesch-Nyhan-Symptomen kreiert. „Ich werde nicht weiter ins Detail darüber gehen, was die Ratten taten. Sie zerbissen sich nicht ihr Mundgewebe, wie es menschliche Patienten tun“, erzählte Breese mir. Immer wenn er den selbstzerstörerischen Ratten andere Stoffe gab, stoppten sie, sich ihre Klauen zu zerbeißen - d.h. er fand einen Weg, die Symptome rückgängig zu machen. „Wir behandelten die Ratte sofort, wenn wir sahen, dass sie anfing, an ihren Klauen zu nagen“, sagte er. Dieser Stoff wurde jedoch nie für die Behandlung von Menschen erlaubt.

Im April 2000 operierte ein Neurochirurge names Takaomi Taira an der Tokyo
Women‘s Medical University das Gehirn eines 19 Jahre alten Lesch-Nyhan-Patienten. Der junge Mann lebte mit seinen Eltern im nördlichen Teil Tokyos. Außer seinem selbstzerstörerischen Verhalten machte er spastische, krampfhafte, prügelnde Bewegungen, die von Dystonie zeugen. „Diese Dystonie-Bewegungen wurden beinahe jeden Tag schlimmer und seine Eltern verzweifelten“, sagte Taira mir kürzlich. Er entschied sich dafür eine so genannte Tiefenhirnstimulation
durchzuführen, mit der die Bewegungen beruhigt werden sollten.
Tiefenhirnstimulation wurde vor mehr als 20 Jahren von Ärzten entwickelt, um
Menschen mit Parkinson zu behandeln. Einer oder mehrere dünne Drähte werden in die Öffnungen des Skalpells eingeführt und vorsichtig durch das Gehirn gesteuert bis sie in einem Teil der Basal Ganglia ankommen, der Globus Pallidus („helle Kugel“) heißt, und dort einen Punkt von der Größe einer Erbse zu betäuben. Die Patienten fühlen nichts. Die Behandlung hilft oft, das Zittern in den Händen und Gliedern der Parkinson-Patienten zu lindern, und es hilft ihnen einfach zu gehen. „Nach der Operation verschwand die Dystonie-Bewegung des Jungen vollständig“, sagte Taira. Er schickte ihn mit einem Tiefenhirnstimulator nach Hause und fand, dass die Behandlung geholfen hatte. Einige Monate später erzählten die Eltern des jungen Mannes Taira, dass er aufgehört hatte, sich zu beißen. Er war noch im Rollstuhl, und seine Harnsäurekonzentration war noch hoch, aber er las Comics und sah Fernsehen, und schien sein Leben so wie nie zuvor zu genießen. „Es kam völlig unerwartet, erstaunlich, fast unglaublich“, sagte Taira. Ein paar Jahre später, fing der junge Mann auf einmal wieder an, in seine Hände zu beißen und die Eltern brachten ihn zurück. „Ich untersuchte das Gerät und fand heraus, dass die Batterie fast leer war.
Ich ersetzte die Batterie und die Symptome waren wieder unter Kontrolle“, sagte
Taira. Eine Gruppe von Wissenschaftlern in Montpellier, Frankreich, geleitet von einem Neurochirurgen namens Philippe Coubes, implantierte Tiefenhirnstimulatoren in fünf Lesch-Nyhan-Patienten. Seine Methode beinhaltete die Einpflanzung von vier Drähten in das Gehirn. „Bisher, haben wir drei Patienten die sehr gut zurecht kommen und zwei, die eine dazwischenliegende Reaktion zeigen - bei einem ist die Reaktion nicht schlecht, aber nicht so gut wie bei den anderen“, sagte Coubes. „Ich bin mir nicht sicher, ob wir über lange Zeit jedes Verhalten kontrollieren können, aber wir sind auf dem Weg, die Tiefenhirnstimulation für diese Patienten besser zu verstehen.“
Der Teufel des Perversen kann eingeschläfert werden, aber niemand weiß, wie man ihn los wird.
Wissenschaftler sind sich nicht sicher, warum Tiefenhirnstimulation bei einigen
Patienten zu wirken scheint, oder ob es anderen helfen kann; die Ergebnisse zeigen in der Tat, wie mysteriös das Gehirn für uns immer noch ist. Es ist auch nicht klar, welche Risiken auftauchen können. William Nyhan drückte sich vorsichtig über das Potential der Behandlung aus: „Ich sehe diese Kinder als unbeständig, sie reagieren nicht so gut auf Operationen.“
Am Johns Hopkins Hospital ist Dr. Jinnah ehrgeizig dabei, mehr über eine Gruppe
von acht Lesch-Nyhan-Patienten herauszufinden, die mit Tiefenhirnstimulation
behandelt wurden. Er braucht immer noch sichere Fördermittel und die Erlaubnis vom Staat. (Die Behandlung wurde noch nicht speziell für Lesch-Nyhan-Patienten
akzeptiert.)
Jinnah hatte es nie leicht, Fördermittel einzutreiben und Aufmerksamkeit auf die
Lesch-Nyhan-Forschung zu lenken. Er sagte: „Die Leute fragen mich, warum ich
nicht weiter verbreitete Krankheiten erforsche.“ Meine Antwort lautete, dass wenn
wir Neurologen das alle machen würden, wir alle an Alzheimer, Parkinson und
Schlaganfällen forschen würden. Es gibt tausende Gehirnkrankheiten und sie sind alle Waisenkinder. Aber die seltenen Krankheiten könnten uns etwas Neues über das Gehirn verraten, etwas, was für häufigere Gehirnkrankheiten, die so viele Leute betreffen, von Nutzen sei  könnte.
Ich kam mehrere Male wieder, um James Elrod und Jim Murphy zu besuchen und
fing an, den Mitarbeitern bei täglichen Aufgaben zu helfen. Elrod spukte mir ein paar mal ins Gesicht, und gab mir einen linken Haken auf die Wange. Einmal ergriffen mich seine in Klevlarfasern gehüllten Finger wie eine Schraubzwinge; er
entschuldigte sich, während wir beide daran arbeiteten, sie los zu machen. An seinem 33. Geburtstag drückte sich Murphy sein Gesicht in den Kuchen und schlug mich danach. Trotzdem mochte ich ihn sehr. Murphy hatte eine Leidenschaft fürs Offroad- Fahren, was er normalerweise nicht machen konnte. Eines Tages, im Jahre 2001, kam ich in einem geliehenen Ford Expedition mit Vierradantrieb nach Santa Cruz. Ein Assistent namens Tracey Overby war bei Murphy, während ein anderer, namens Chris
Reeves, sich um Elord kümmerte. Ich fuhr die Gruppe zu einem ausgetrockneten See in der Nähe von Watsonville - College Lake -, der, wie wir gehört hatten, ein guter Ort für Offroad-Touren war. Auf dem Weg hielten wir bei einem California state Polizisten, um uns nach dem Weg zu erkundigen. „Ich würde euch nicht raten, dort mit behinderten Leuten hinzufahren“, sagte er.
College Lake zeigte sich als meilenweite Fläche voller schmalzartigem Lehm
überdeckt mit Sand. Der Seeboden hatte ein schwarzes, nass aussehendes Zentrum und wurde von Weidedickicht umgeben. Ich steuerte den Ford auf den Sand. „Schneller“, sagte Murphy. „Du fährst wie eine alte Frau. „Ich triezte den Motor, der Ford machte einen Satz nach vorne und wir rasten über den Sand. Als ich scharf in die Kurve ging, brüllten die Männer vor Freude. Ich fuhr eine Acht, lenkte den Wagen dann Richtung Mitte des Sees und fuhr mit voller Kraft drüber. Wir fuhren an einem
versunkenen Gestell eines Lastwagens vorbei, der bis zum Dach in Lehm begraben war. Der Ford wurde langsamer. Dann fing er an umzukippen und ich realisierte, dass wir über etwas fuhren, das man Schnellmatsch (quickmud) nennen könnte. Wenn wir stoppen würden, würden wir versinken. Ich gab noch mehr Gas, aber es war zu spät. Die Räder drehten durch und wir hielten an und sanken bis zu den Türen und der Motor würgte ab.
Ein Moment der Stille bevor Elrod und Murphy anfingen mir Beleidigungen an den
Kopf zu werfen. Die zwei Helfer schienen ungestört. „Es ist einfach die Natur der
Arbeit“, sagte Reeves. „Nichts funktioniert so, wie du es planst.“
Nach einigen Versuchen mit meinem Handy erreichte ich eine Abschleppfirma, die
anbot, uns herauszuziehen. Aber ich müsse im Voraus bezahlen, am liebsten bar, und Erfolge waren nicht garantiert.
„Ich bin nervös“, sagte Murphy, als wir warteten. Blut tropfte aus seinem Mund - er biss sich selbst. Overby trug ihn aus dem Auto und über den Sand in den Schatten von Sträuchern und setzte sich dort mit ihm im Schoß. Sie wischte ihm den Mund mit einem Lätzchen, wiegte seinen Kopf in ihren Armen und begann, zu singen. Er fing an, zu lachen.
Elrod saß auf dem Vordersitz des Expedition und fing auch an zu lachen. Die Männer wussten, was ich getan hatte: ich hatte den Rat des Polizisten ignoriert und zwei behinderte Männer mit hoher Geschwindigkeit in den Matsch gefahren. Sie sahen etwas Bekanntes in meinem Verhalten.

Drei Jahre später, 2004, bekam Murphy Lungenentzündung. Als klar war, dass er
sterben würde, rief ich ihn an, um mich von ihm zu verabschieden. Als er ans Telefon kam, konnte ich Stimmen im Hintergrund hören; mehr als 30 Leute waren
gekommen, um ihn zu sehen. „Mir wird es gut gehen“, sagte er und fügte hinzu „Pass auf beim Fahren!“
An einem anderen Tag, bevor Murphy starb, besuchte ich James Elrod. Tracye
Overby, die als Assistentin von Elrod arbeitete, musste ihm das Seidenfutter in seinen Handschuhen erneuern.
Elrod mochte es nicht, seine Hände zu sehen. Er bat mich, ihm seine Handgelenke zu halten, während Overby seine Handschuhe entfernte. Die Hände waren bleich,
spindeldürre Finger, die an manchen Stellen fast bis zum Knochen abgenagt waren, und ein Finger fehlte. „Vorsicht“, sagte er. Seine Augen bekamen einen komischen, hellen, leeren Blick. Er starrte auf seine rechte Hand. Sein Arm war angespannt und am zittern. Als ob ein Magnet sie anziehen würde, bewegte sie sich zu seinem Mund. „Hilfe!“, schrie er mit gedämpfter Stimme.
Wir stürzten uns auf Elrod. Wir mussten mir aller Kraft seine Hände still legen. Als
wir sie unter Kontrolle hatten, entspannte er sich. Overby zog ihm die Handschuhe
wieder an. „Niemand weiß über die Krankheit Bescheid. Jeden Tag hoffe ich auf Heilung“, sagte Elrod. „Ich wollte, dass sie das wissen.“

von Richard Preston,

erschienen im “New Yorker”, Herbst 2007
übersetzt von Esther Singer, Dezember 2007