ZURÜCK ZU ZUCHT UND ORDNUNG?

Interview mit Ulrich Lange, Internatsberatung der AVIB gemn. e.V.   35327 Ulrichstein

Herr Lange, in der Bundesrepublik ist eine hitzige Debatte über die Rückkehr zu Zucht und Ordnung in der Erziehung entbrannt. Der Ex-Schulleiter der bekannten Internatsschule Schloss Salem, Bernhard Bueb, hat mit seiner Streitschrift „Lob der Disziplin“ einen Bestseller gelandet und gleich ein Buch über die „Pflicht zu führen“ nachgeschoben. Beide Bücher haben aber auch heftigen Widerspruch hervorgerufen. Was sagt diese Disziplin-Diskussion über die Situation der Internate in Deutschland aus?

Was die Internate angeht, ist dem eine lange Diskussion über den Verlust der Disziplin in Salem und vielen anderen Häusern vorausgegangen. Schon 1981 brachte eine große Frauenzeitschrift einen Beitrag über Mädchen im Landschulheim am Solling unter der Überschrift: „Sie lassen sich nichts mehr verbieten!“ Oder denken Sie an den zu großen Teilen über die Medien ausgetragenen Streit zwischen dem damaligen Salemer Hausherrn, Max von Baden, und der Internatsleitung wenige Jahre später. Es ist nur leider in Vergessenheit geraten, dass dieser Streit unter gänzlich anderen Vorzeichen geführt wurde. Damals verteidigte Bueb ein liberales Konzept, Max von Baden wurde als übler Reaktionär vorgeführt und zog sich nach mehreren verlorenen Prozessen gegen die Schule Schloss Salem aus dem Schulvorstand zurück. Heute vertritt Bueb mit feinem Gespür für den sich wandelnden Zeitgeist die Thesen seines damaligen Widersachers. Ich frage mich, warum Bueb nicht schon damals mit so markigen Worten gegen den Verfall von Zucht und Ordnung zu Felde gezogen ist. Er war doch Schulleiter und konnte aktiv eingreifen. Jetzt, im Ruhestand, verfasst er scheinbar mutige Manifeste, wodurch gleichzeitig der Eindruck erweckt wird und vielleicht auch gezielt erweckt werden soll, als habe Bueb in Salem ein wohlbestelltes Haus hinterlassen, in dem stramm geführt und die Disziplin nicht nur gelobt, sondern tatsächlich auch gelebt werde.

Aber Buebs Thesen würden Sie im Prinzip zustimmen?

Ich finde diesen Ruf nach Disziplin und Führung gar nicht so originell. Vor zwanzig oder dreißig Jahren herrschte noch in vielen Häusern Zucht und Ordnung, während sich im Speisesaal der Salemer Oberstufen-Dependance Schloss Spetzgart bereits die Schüler mit dem Essen bewarfen. Konservativere Internatserzieher wurden wegen ihrer vermeintlich reaktionären Ansichten teilweise wie Aussätzige behandel. Leitbild war der liberale Geist der Odenwaldschule. Mich stört, dass jetzt so getan wird, als müsse am Salemer Wesen die gesamte Gesellschaft genesen, obwohl gerade dieses Institut den besten Beweis dafür liefert, dass die Konfrontation idealistischer Phrasen mit der Wirklichkeit zu eklatanten Divergenzen bzw. inneren Widersprüchen führt, die ein Erziehungsmilieu überfordern. Salem ist aus meiner Sicht das Symbol für den „movaise foi“ einer Gesellschaftsschicht, die ihre unverdienten Privilegien öffentlich zu rechtfertigen sucht, indem sie sich asketisch, bescheiden und sozial engagiert gibt. Nach der existenzialistischen Philosophie bedeutet „movaise foi“ eine falsche Ideologie, deren Vertreter zugleich sich selbst und andere belügen. Wo Anspruch und Wirklichkeit zu sehr auseinanderklaffen, wird das Leben doppelbödig, blühen Verlogenheit und Heuchelei, aber keineswegs Zivilcourage, Ehrlichkeit, Mut, Verantwortungsbereitschaft und ähnliche Tugenden, wie man sie in Salem penetrant propagiert. Vor Jahren schon behauptete eine Zeitschrift in einem Beitrag über Salem, jeder dort wisse, dass dieses ganze Sozialgetue und Moralgewinsel Blödsinn sei, überflüssig und verlogen.

Wo sehen Sie denn den falschen Glauben, wie man >la movaise foi< ja wohl wörtlich übersetzen müsste, in der Forderung nach Disziplin und Führung?

Ich frage mich zunächst, ob solche Forderungen in privaten Internatsschulen des Typs, über den wir gerade sprechen, tatsächlich durchsetzbar sind oder ob nicht von vornherein immer wieder zu viele Kompromisse gemacht werden müssen. Das Hauptproblem von Salem & Co. ist doch die Abhängigkeit vom Geld einer privat zahlenden Kundschaft. Diese Kundschaft bestimmt allein schon durch ihr Nachfrageverhalten, wie viel von den hehren pädagogischen Zielen überhaupt realisiert werden kann. Dabei sind direkte Eingriffe in pädagogische Entscheidungen, die es ja auch gibt, noch gar nicht mitbedacht.

AVIB-Geschäftsführer Ulrich Lange

Die Kundschaft will aber doch offensichtlich strengere Internate, Zucht und Ordnung? Das beweist z.B. der Zulauf, den die englische Konkurrenz zu verzeichnen hat.

England ist weit weg. Da schaut niemand so leicht hinter die Kulissen. Durch Elternbeschwerden weiß ich, dass auch in englischen oder nordamerkanischen Häusern nicht alles Gold ist, was glänzt. Man ist dort oft wesentlich rigider, was Disziplin, Kleiderordnung, Drogenkonsum, Bettgehzeiten, Kontakte zum anderen Geschlecht usw. angeht. Doch überall gibt es Wege, Regeln zu umgehen. Und überall setzen die Institute alles daran, negative Berichte, die dem sauberen Image schaden könnten, mit allen Mitteln zu unterdrücken. Die internationale Internatsliteratur ist voll von Beispielen, in denen die Leitungen nobler Boardingschools mit allen legalen wie illegalen Mitteln dafür sorgen, den „guten Ruf“ der Häuser zu bewahren. Strenge Strafen allein halten niemanden von Missetaten ab, wenn nicht gleichzeitig die entsprechende soziale Kontrolle gesichert ist bzw. die ausgesetzten strengen Sanktionen dann auch ohne Rücksicht auf die wirtschaftlichen Folgen exekutiert werden können. Aber genau an dieser Stelle setzen Selbstbetrug und pädagogische Korruption ein.

Können Sie Beispiele nennen?

Im Jahr 2005 brachte die „Welt am Sonntag“ einen groß aufgemachten Beitrag unter dem Titel: „Salem zieht die Zügel an!“ Darin wurde verkündet, dass man bestimmte Verbote nun endlich durchsetzen und Regelverstöße strenger ahnden könne, weil die große Schülernachfrage dies erlaube. Mit anderen Worten: Konsequente Erziehung ist von der jeweiligen Kassenlage abhängig. Gleichzeitig erfuhr man, was bis dahin gängige Praxis in Salem gewesen ist: Schüler, die sich bei jeder Gelegenheit mit Strömen von Alkohol die Kante gaben und Lehrer, die zu nächtlicher Stunde die Discotheken der Umgebung absuchen mussten, um die Salemer Eleven wieder einzufangen, die sich unerlaubt aus dem Internat entfernt hatten. Das ist doch jämmerlich! Die Repräsentanten der neuen Strenge, die Bueb-Nachfolgerin Ingrid Sund und der aus England stammende Oberstufenleiter Lindfield Roberts, wurden dann allerdings bereits nach knapp einem Jahr verabschiedet und gegen geschmeidigere Führungskräfte ausgetauscht. 

Immerhin behauptet Salem, mit hartem Durchgreifen das Drogenproblem in den Griff bekommen zu haben.

Und zuvor hat man immer wieder behauptet, dass es ein solches Problem gar nicht gäbe. Ich kann mich noch gut der Abmahnung einer Münchner Anwaltskanzlei im Auftrag Salems aus den 1990er Jahren erinnern, nachdem ich Ratsuchende darüber aufgeklärt hatte, welche Zustände hinter der prächtigen Fassade ehrwürdiger Klostermauern tatsächlich herrschten. Ehrlich ist man in Salem immer nur im Rückblick auf lange zurückliegende Zeiten. Da ist dann plötzlich von einem Trümmerhaufen, von beschädigter Erziehungs- und Verwahrlosung der Unterrichtskultur die Rede. Was die Gegenwart betrifft, wird jede Kritik als Majestätsbeleidigung zurückgewiesen, wird abgestritten, gedroht und geklagt, was das Zeug hält. Das ist doch in höchstem Maße unehrlich. Wie sollen denn überhaupt Probleme gelöst werden, deren Existenz verheimlicht oder deren Ausmaß heruntergespielt werden muss, damit die Kundschaft nicht abgeschreckt wird?

Wie schätzen Sie denn die tatsächliche Situation in Salem oder ähnlichen Internaten ein?

Mal ganz unabhängig von bestimmten Instituten: Man weiß zum Beispiel Folgendes: Größtenteils werden die Eleven dann ins Internat gegeben, wenn die Krisen der Pubertät ihren Höhepunkt erreichen. Es kommen dann vor allem junge Menschen im Internat zusammen, die sich in besonders labilen Phasen ihrer Entwicklung befinden und sich hierdurch gegenseitig extrem negativ beeinflussen. Durch die moderne Hirnforschung wissen wir zudem, dass bestimmte Hirnreifungsprozesse zwischen dem 15. und 25. Lebensjahr die verstandesmäßige Kontrolle des Individuums massiv beeinträchtigen. Besonders im Alter von 14-15 Jahren gerät die Balance zwischen Gefühl und Vernunft außer Kontrolle.

Und das führt dann zwangsläufig zu verstärktem Drogenkonsum im Internat?

Die Wissenschaft hat herausgefunden, dass sog. belohnungsabhängige Hirnregionen früher reifen als solche Regionen, die für die Handlungskontrolle zuständig sind. Dies begünstigt irrationale Entscheidungen, die sofortige Belohnung versprechen. Gleichzeitig steigen Impulsivität und Risikobereitschaft. Besonders Jungen suchen den ultimativen Kick und wollen die Grenzen austesten. Typische Erscheinungsformen dieser Entwicklungsphase sind pubertäre Exzesse wie Binge-Drinking, S-Bahn-Surfen, illegale Autorennen und andere lebensgefährliche Mutproben. Vor diesem Hintergrund wäre es naiv, sich von strengen Regeln, Alkoholverboten o.ä. irgendetwas zu versprechen. Die Erfahrung der Grenzen und damit auch das Risiko des Erwischtwerdens werden ja gerade zwanghaft gesucht. 

Wie sieht es bei den Mädchen aus?

Mädchen ticken anders als Jungen, allein schon deswegen, weil ihre Gehirnreifung sich schneller vollzieht als diejenige männlicher Jugendlicher. Hierdurch bilden sich andere Hirnstrukturen aus. Jungen neigen mehr zum physischen Ausagieren und zum Kampftrinken, zu den klassischen Mutproben. Daneben sind sie aber auch besonders anfällig für Belohnungssysteme, die mit einer technischen Funktionslust zu tun haben. Das macht sie so anfällig für Computerspiele oder Autofahren ohne Führerschein bzw. unter Alkohol. Mädchen unterliegen leicht einem Zwang zur körperlichen Perfektion, der bei entsprechender Veranlagung in der Magersucht enden kann. Ihre Hirnentwicklung ist stark von dem Ansteigen des Östrogenspiegels geprägt, der das Wachstum des Hippocampus, sozusagen des emotionalen Gedächtnisses im Gehirn, anregt. Dies erzeugt extreme Stimmungsschwankungen und macht anfälliger für Depressionen. Vor allem essgestörte Mädchen sind oft gefangen in Selbstzweifeln, Desorientierung und Gefühlen von Schuld oder Einsamkeit. Auch hieraus kann sich natürlich das Verlangen ergeben, Erleichterung im Drogenrausch oder in der Selbstverletzung zu finden. 

Das betrifft aber dann nicht nur Internatsschüler, sondern müsste sich an Tagesschulen ähnlich auswirken.

Internatsschüler und –schülerinnen stammen ja überwiegend aus instabilien familiären Verhältnissen und haben vielfach Schwierigkeiten in der Schule und im sonstigen sozialen Umfeld. Beide Faktoren bedingen sich zumeist gegenseitig und korrellieren hochgradig mit Suchtlabilität. Zusätzlich sind Internatsschüler gegenüber den normalen Anforderungen des Lebens auch oft weniger belastbar und leiden stärker als junge Menschen aus intakten Familien unter den psychischen Folgen neuronaler Reifungsprozesse. Damit erhöht sich wahrscheinlich die Bereitschaft zum Drogenkonsum.

Wie wirkt sich das Herkunftsmilieu der Internatsschülerinnen und -schüler konkret aus?

Als Wegbereiter der Flucht in den Drogenkonsum gelten Drogenerfahrungen schon in der Herkunftsfamilie, also etwa Medikamentenmissbrauch, Alkoholismus, die Einnahme leistungssteigernder oder konzentrationsfördernder Präparate durch die Eltern oder deren Verabfolgung an die Kinder. Indirekter wirkt z.B. Vernachlässigung aufgrund beruflicher Überlastung, also Fehlen von Liebe und Zuwendung, was gern durch materielle Verwöhnung kompensiert wird. Häufig zu beobachten sind heute aber auch symbiotische Beziehungen zwischen einem alleinerziehenden oder in unglücklicher Ehe sich vernachlässigt fühlenden Elternteil und dem Kind, oft verbunden mit dem sog. Partnerschaftlichen Erziehungsstil, bei dem eine ausreichende Abgrenzung des Erwachsenen und altersentsprechende Grenzsetzungen fehlen. Dann wieder ist häufig eine Überforderung durch zu hohe Leistungserwartungen der Eltern festzustellen oder die Konkurrenz eines Kindes mit wesentlich leistungsfähigeren oder attraktiveren Geschwistern bzw. wesentlich älteren oder jüngeren Halb- oder Stiefgeschwistern in einer sogenannten Patchwork-Familie. Das alles sind Befunde, die wir im Herkunftsmilieu von Internatsschülern besonders häufig antreffen und die dazu führen, dass Kinder und Jugendliche besonders anfällig für Drogen werden, weil sie bereits durch die Eltern gelernt haben, seelische Missstimmungen mit Hilfe von Drogen zu dämpfen. Oft machen Verwöhnung und Sinnentleerung die jungen Menschen auch so lebensuntauglich, antriebsarm und emotional labil, dass sie sich in ständigem Konflikt mit ihrem sozialen Umfeld befinden und den Drogenrausch brauchen, um Misserfolgserlebnisse, Enttäuschungen und innere Anspannung verdrängen zu können. Zum Teil ist der Drogenkonsum natürlich auch Bestandteil eines komplexen psychodynamischen Geschehens, etwa als unbewusster Versuch, die Aufmerksamkeit der Eltern auf sich zu lenken, durch die Notwendigkeit der Fürsorge für das suchtkranke Kind Gemeinsamkeit zwischen den Eltern herzustellen und so die Auflösung der ehelichen Beziehungen zwischen den Eltern zu verhindern, oder als paradoxe Lösung eines Konflikts zwischen Bindung und Ablösung gegenüber einem überfürsorglichen Elternhaus oder einem symbiotisch klammernden Elternteil.

Sie sprechen verschiedentlich von systembedingten Nachteilen der Internatsmilieus, durch die sich das Drogenproblem erheblich verschärfe. Was meinen Sie damit?

Interessanterweise entfalten bestimmte Milieubedingungen der Internate, die vielfach für typische Vorteile gehalten werden, ganz unerwartete Nebenwirkungen. Ich denke da zum Beispiel an das, was die Internate gern als „zeitliche Verplanung“ anpreisen. Eltern verbinden damit die Vorstellung, dass ihre Kinder den ganzen Tag über von einem Veran- staltungstermin und einem Event zum nächsten eilen, damit sie immer unter Aufsicht sind und nicht auf dumme Gedanken kommen können.

Und das ist falsch? Es klingt zumindest ziemlich einleuchtend.

Nur ist in der Wirklichkeit eben manches anders als in der Theorie. So hat der Hamburger Erziehungswissenschaftler Professor Peter Struck eindringlich auf die Gefahren einer totalen Bildungs- und Freizeitverplanung von Kindern und Jugendlichen hingewiesen. Zu viel Fürsorge bewirke mehr Schaden als Nutzen. Junge Menschen in der Entwicklung brauchten Ruhe, Muße, Entlastung und viel freie Zeit für sich selbst, auch für zweckfreies Spiel, Musik-hören, Lesen, Fernsehen, Herumgammeln usw., und natürlich auch für Kommunikation und Interagieren mit Gleichaltrigen. Wo dies nicht ausreichend gewährleistet sei, entstehe die Gefahr eines pubertären Ausbrechens. Mit 14 oder 15 Jahren rasteten die jungen Menschen plötzlich aus, ließen sich mit Alkohol vollaufen, betrieben Kampfrauchen oder flüchteten gar mit Drogen oder Tabletten in Rauschzustände.

Ist das nicht vielleicht auch nur eine Theorie?

Für den Widerstand von Internatsschülern gegen diese vollständige Verplanung des Alltags finden sich vielfältige Belege. Zumeinen scheint es so zu sein, dass selbst die attraktivsten Freizeitangebote stark an Reiz verlieren, wenn der Jugendliche beispielsweise schon heute weiß, dass er genau in fünf Monaten, dienstags um 17:30 Uhr, mit dem Segelboot auf dem Bodensee unterwegs sein wird. Deshalb erhält man ja immer wieder diese Berichte aus den Internaten: Es wird Gott weiß was angeboten, aber zum regelmäßigen Training am Nachmittag kommt dann nur die halbe Mannschaft oder Bootsbesatzung. Und auch das scheint mir ganz klar zu sein: Diese ganzen nächtlichen Aktivitäten in den Internaten, über die man ständig liest, das Aussteigen und Sich-Betrinken, die Schleicherei der Jungen in die Schlafräume der Mädchen und vielleicht auch umgekehrt – da holen sich die Jugendlichen die individuelle Freizeit nachts zurück, die ihnen durch Verplanung tagsüber gestohlen wird. Und natürlich führt das auch zu verstärktem Drogenkonsum. Es handelt sich hier um den sogenannten Dämmerungseffekt; will sagen: Mit Einbruch der Dunkelheit verstärkt sich die Bereitschaft zur Übertretung von Regeln oder Gesetzen.

Wie sieht es aus mit internatstypischen Problemen wie Heimweh o.ä.?

Negative Gefühle und Grundstimmungen wie Heimweh, Einsamkeit oder Heimatlosigkeit, die sicherlich oft auch schon auf Erfahrungen in den Herkunftsfamilien beruhen, sind in Internaten ein wichtiges Thema bzw. werden durch die Internatssituation häufig deutlich verstärkt. Damit steigt dann auch die Bereitschaft, mit Hilfe des Drogenkonsums die psychische Balance zumindest vorübergehend wiederherzustellen. Ein Weiteres kommt hinzu: Wer sich allein gelassen fühlt oder die Beziehung zum Elternhaus innerlich abgebrochen hat, ist besonders auf den Rückhalt in der Subkultur der Gleichaltrigen angewiesen. Er möchte auf keinen Fall ausgegrenzt werden. Das aber macht hochgradig anfällig für den Drogenkonsum unter Gruppenzwang. Gruppenzwang ist geradezu konstitutiv für Internatssubkulturen bzw. das Zusammenleben der Jugendlichen im Internat.

Was können Verbote und Kontrollen denn überhaupt bewirken?

Wir finden in der Internatsliteratur eine Vielzahl von Belegen, dass selbst rigideste Verbote und strengste Strafen die InternatsschülerInnen zu keiner Zeit davon abgehalten haben, sich der Internatsordnung zu widersetzen. Der soziale Rang eines Schülers in der Internatsgemeinschaft wurde und wird in den Entwicklungsjahren maßgeblich bestimmt durch die Tollkühnheit, mit der dieser das Ordnungssystem der Erwachsenen offen oder versteckt herausfordert und in Frage stellt. Das scheint geradezu eine Gesetzmäßigkeit in Internaten zu sein. Aus einer Studie der Universität Bielefeld aus dem Jahr 2004 wissen wir, dass weder strenge Verbote noch penible Kontrollen, etwa ständiges Blasen in Alkotester oder stichprobenartige Urintests, geeignet sind, den Drogenkonsum im Internat zu unterbinden. Vor diesem Hintergrund halte ich Meldungen, wonach beispielsweise in Salem durch Einführung der entsprechenden Maßnahmen nun plötzlich kaum noch Fälle von Drogenmissbrauch feststellbar seien, für puren Selbstbetrug oder reine Zweckpropaganda, um das katastrophale Image früherer Zeiten loszuwerden. Wer solche Märchen in Umlauf setzt, unterschätzt die Findigkeit und Intelligenz derer, die – aus welchen Gründen auch immer – im Internat zu Drogen greifen. Da findet bestenfalls ein ständiger Wettlauf zwischen Hase und Igel statt. Die Schüler sind immer einen Schritt voraus. Das müsste eigentlich jeder wissen. Schließlich ist auch allgemein bekannt, dass es nicht einmal im geschlossenen Strafvollzug, also unter den Bedingungen der totalen Überwachung, wie sie in Strafanstalten stattfindet, möglich ist, das Einschleppen und den Konsum von Drogen zu verhindern. Im Gegenteil: Nirgendwo kommt man leichter an Suchtmittel aller Art als hinter Schloss und Riegel!

Die Schwachstelle dort waren häufig die Vollzugsbeamten selbst.

Ich weiß nicht, ob man das so verallgemeinern kann. Aber Ähnliches gibt es ja auch in Inter-naten, wo oft eine gewisse Kumapnei zwischen Schülern und Lehrern oder Erziehern besteht. In einem Beitrag der Frankfurter Rundschau über die Odenwaldschule las ich vor Jahren, der ehemalige Leiter, Gerold Becker, habe exzessiven Konsum von Alkohol und Drogen nicht nur gebilligt, sondern sogar unterstützt und bisweilen gar 14-Jährige sonntags zum Bierholen nach Bensheim gefahren. Erst kürzlich berichtete „DIE ZEIT“ von einem Lehrer der Hermann-Lietz-Schule Hohenwehrda, der aus Opposition gegen die strengen Internatsregeln ein paar Flaschen Sekt und Zigaretten in das benachbarte Oberstufeninternat nach Bieberstein geschmuggelt habe, wo der eigene Sohn Geburtstag gefeiert habe. Kein Wunder, dass dann in einem Verbraucherportal aktuell der Beitrag eines Ehemaligen auftaucht, der von stark alkoholisierten Schülern im Unterricht, ständigem Schwänzen, ohnmächtigen und frustrierten Pädagogen sowie zahlreichen Vertragskündigungen wegen Drogenkonsums berichtet. Wer auf harte Maßnahmen und Kontroll-Tests setzt, verkennt m. E. nicht nur das Wesen der Sucht, sondern auch die destruktive Lust von Ju-gendlichen an der Regelverletzung bzw. die Wirkung des Kicks, der mit dem Risiko der Übertretung verbunden ist. Diese Phänomene sind gerade in Kreisen wohlstandsverwöhnter und gelangweilter Oberklasse-Sprösslinge gut zu beobachten. Und auch zu diesem Thema gibt es natürlich eine Vielzahl von Literaturbelegen, übrigens auch und gerade aus engli-schen EliteInternaten, die ja immer als so sittenstreng und diszipliniert hingestellt werden.

Trotzdem hat man den Eindruck, als habe sich der Problemdruck in den Internaten verringert.

Das mag so sein, trifft aber auch auf öffentliche Tagesschulen zu. Vielleicht ist man vorübergehend auch nur des Themas überdrüssig geworden. Das ist so ähnlich wie bei der Diskussion über das Waldsterben. Da hört man auch keine Tatarenmeldungen mehr, aber der Wald ist heute keineswegs gesünder als noch vor fünf oder zehn Jahren.

Also trotz „Zucht und Ordnung“ keine Entwarnung beim Thema Drogengefährdung im Internat?

Nach meinem Eindruck fehlt den Internaten der Mut zu wirklich radikalen Maßnahmen. Im Hinblick auf Nikotin, Alkohol und illegale Drogen halte ich eine absolute Null-Toleranz-Strategie für die einzig sinnvolle Lösung.

Und die würde helfen?

Zunächst einmal schreckt eine Null-Toleranz-Strategie suchtgefährdete Schüler bzw. Jugendliche mit Suchtproblemen ab und zieht dafür solche Aufnahme-kandidaten an, die Nikotin, Alkohol und andere Drogen sehr dezidiert ablehnen, ja geradezu eine militante Anti-Haltung, einnehmen. Hierdurch verringert sich die Verführung durch die Clique, der Gruppenzwang.

Was soll denn geschehen, wenn Schüler trotz „Null-Toleranz“ des Internats rauchen oder Alkohol trinken?

Notwendig ist eine Vertragsgestaltung, die die Null-Toleranz-Strategie als besonderes konzeptionelles Merkmal des Internats hervorhebt und den Verstoß gegen das Drogenverbot als wichtigen Grund für eine außerordentliche Kündigung auch ohne Abmahnung aufführt.

Wenn aber, wie Sie ja sagen, auch strengste Maßnahmen im Grunde den Drogenkonsum nicht verhindert können: Bringt Ihr Null-Toleranz-Konzept das Internat dann nicht ständig in wirtschaftliche Schwierigkeiten?

Das kann man sich bei massenhaften Verstößen gegen das Drogenverbot schon vorstellen. Aber was ist die Alternative? Institute wie Salem lassen sich als „strengste Internate Deutschlands“ feiern, doch wenn man sich anschaut, was bei Missachtung von Alkoholverboten usw. tatsächlich passiert, kann man nur milde lächeln. Schlimmstenfalls gibt’s mal ein paar Arbeitsstunden beim Bauern oder ähnliches. Wenn wirklich mal einer so über die Stränge schlägt, dass man ihn des Internats verweisen muss, um überhaupt das Gesicht zu wahren, wird er in ein anderes Luxusinternat verfrachtet oder darf nach einer vorübergehenden Verbannung – z.B. in einem englischen Partnerinstitut – nach ein paar Monaten wiederkommen. In den Landerziehungsheimen nennt man dieses Verfahren augenzwinkernd „Früchtchenwechsel“. Zum gesundheitlichen Schaden durch den Drogenkonsum kommt dann noch der charakterliche durch die Doppelbödigkeit und Inkonsequenz im Umgang mit dem Problem. Ein wirkliches Durchgreifen würde aber innerhalb einer gewissen Zeit schon zum Erfolg führen. Wie machen es denn Einrichtungen, die mit Ex-Drogenusern arbeiten. Da führt doch auch jeder noch so geringe Verstoß gegen das Null-Toleranz-Prinzip zum Ausschluss. Und trotzdem gibt es diese Einrichtungen seit Jahrzehnten.

Aber wie reagieren denn die Eltern auf strenge Maßnahmen des Internats oder sogar auf die fristlose Kündigung eines Aufnahmevertrags?

Das ist allerdings ein Kapitel für sich. Die meisten Eltern sind nur so lange für Zucht und Ordnung oder hartes Durchgreifen, wie das eigene Kind von erzieherischen Maßnahmen verschont bleibt. Dieselben Eltern, die Buebs „Lob der Disziplin“ frenetisch feiern, laufen doch Amok, wenn die eigenen Sprösslinge gemaßregelt oder vor die Tür gesetzt werden. Dies gilt besonders für die Kundschaft von der Sorte „Reich und Einflussreich“, die narzisstische Kränkungen dieser Art offenbar besonders schlecht wegstecken kann. Diese Spezies läuft in dem Bestreben, ihren unter Umständen charakterlich höchst zweifelhaften Nachwuchs herauszupauken oder in ihrer Rachsucht gegenüber dem Internat, das es ge- wagt hat, ihnen die Tür zu weisen, von Pontius zu Pilatus, wird bei Ministern, Oberstaatsanwälten, der Schulaufsicht, der Heimaufsicht, Zeitungsredaktionen, Fernsehsendern oder wo auch immer vorstellig. Wer mit denen aneinander gerät, darf sich auf jahrelange Prozesse, heim- und schulaufsichtliche Überprüfungsverfahren, Disziplinarverfahren, Betriebsprüfungen durch das Finanzamt und was weiß ich nicht alles einstellen. Es ist unglaublich, was diese „Wir-sind-schließlich-wer“-Eltern da veranstalten, etwa um ihre Sprösslinge vor Strafverfolgung zu schützen oder die nach einer fristlosen Kündigung ja oft noch bestehenden Zahlungsverpflichtungen aus dem Internatsvertrag abzuwehren. Da bekommen Sie zu spü- ren, wie eine bestimmte Gesellschaftsschicht untereinander vernetzt ist bzw. versucht, neue „Man-kennt-sich-und-man-hilft-sich“-Strukturen aufzubauen, um die eigenen Interessen durchzusetzen.

Sie scheinen da während Ihrer eigenen Tätigkeit als Internatsleiter schon einiges erlebt zu haben?

Wenn Sie wirklich konsequent sind und tatsächlich das umsetzen, was das pädagogische Programm verkündet, müssen Sie im Konfliktfall mit heftigster Gegenwehr rechnen. Das ist m.E. ein Mitgrund dafür, dass gerade in den sog. Reiche-Kinder-Verwahranstalten „Zucht und Ordnung“ so auf den Hund gekommen sind und man das Gerede von der neuen Strenge, die überall Einzug gehalten haben soll, auch nicht besonders ernst nehmen muss. Dem Widerstand arroganter und uneinsichtiger Eltern standzuhalten, erfordert genau diejenige Charakterstärke, die Institute wie Salem ja angeblich vermitteln, die deren Leiter und Pädagogen sich aber kaum leisten können, weil am nächsten Tag schon wieder Spenden eingeworben werden müssen, um irgendwelche Renovierungsmaßnahmen, Neuanschaffungen oder Stipendien für begabte Schüler finanzieren zu können.

Aber wie man häufiger hört, hat sich die Disziplinsituation in den Internaten teilweise gebessert, seien die Schüler angepasster geworden.

Es geht bei dem Thema Disziplin natürlich nicht nur um den Drogenkonsum, obwohl ich nach wie vor davon ausgehen muss, dass hier erhebliche Probleme bestehen. Aber die Schwierigkeiten mit Zucht und Ordnung fangen ja schon beim Aufräumen der Zimmer, beim pünktlichen Aufstehen, bei der Körperpflege und den Tischmanieren, bei dem Respekt gegenüber Lehrern, Erziehern und Hausangestellten sowie bei der regelmäßigen Teilnahme am Unterricht, der pflichtgemäßen Erledigung der Hausaufgaben, und dem allgemeinen Sozialverhalten in Schule, Internat oder in der Öffentlichkeit an.

Und sind die Internate wenigstens hier erfolgreicher als die oft gleichgültigen oder gestressten Eltern?

Ich fürchte, nein. Es gibt mittlerweile ein Millionenheer von Kindern und Jugendlichen, die mit den normalen Pflichten des Alltags schlicht überfordert sind. Hierzu gehören die sogenannten ADS- und ADHS-Kinder, aber zunehmend auch die reifeverzögerten Opfer des so genannten partnerschaftlichen Erziehungsstils, die Tyrannen, von denen der Kinder- und Jugendpsychiater Michael Winterhoff spricht. Und schon immer hat es eine große Zahl Wohlstandsverwöhnter und Wohlstandsverwahrloster gegeben, die mit den sogenannten Sekundärtugenden auf Kriegsfuß stehen und grundsätzlich nie tun, was sie sollen. Die Internate sind randvoll mit Schülerinnen und Schülern dieses Typs. 

Wie wirkt sich das im erzieherischen Alltag der Internate aus?

Es mehrt sich die Zahl derjenigen Kinder und Jugendlichen in den Internaten, die man als „schwere Fälle“ bezeichnet, mit denen die Internate auch absolut überfordert sind. Das Hauptproblem stellt aber wohl die Mehrheit derjenigen dar, die in den traditionellen Inter- natsstrukturen nicht mehr zu führen sind, weil sie sich grundsätzlich nichts mehr sagen lassen. Die stellen auf stur. Sind oft gar nicht mal rebellisch. Sie lassen die Erzieher einfach ins Leere laufen. Jede Ermahnung, jede Anweisung muss mehrmals wiederholt werden und bleibt trotzdem erfolglos. Die Jugendlichen sind auf Erwachsene nicht mehr eingestellt, fühlen sich Lehrern und Erziehern gegenüber auf Augenhöhe oder sogar überlegen. Sie hören nicht mehr zu. Sie lernen nichts aus Erfahrungen, auch nicht aus Strafen. 

Schon wieder ein neuer Sozialisationstyp?

Neu ist zumindest das massenhafte Auftreten von jungen Menschen mit diesen Eigenschaften. Ihr hervorstechendes Wesensmerkmal sind Antriebsarmut, Genusssucht und Bequemlichkeit. Oberstes Ziel scheint zu sein, jegliche Anstrengung zu vermeiden. Sie bücken sich nicht mehr, wenn ihnen etwas herunter fällt, können kein Handtuch am angenähten Henkel und keine Jacke an der Garderobe aufhängen. Sie machen keine Tür hinter sich zu und lassen überall das Licht brennen oder das Wasser laufen. Nichts wird zuverlässig ausgeführt oder zu Ende geführt. Planung über den Moment hinaus ist ein Fremdwort. Das Aufschieben von Bedürfnissen ebenso: Ständig müssen sie etwas trinken, etwas naschen. Ständig rieselt ihnen irgendein Müll aus den Taschen und ständig dudelt der MP3-Player in den verstöpselten Ohren. In den Zimmern nur chaotische Unordnung. Ihre Bewohner verkommen zwischen überquellenden Papierkörben, zahllosen leeren Flaschen, halbvollen Pizzakartons und herumliegender Schmutzwäsche. Sie waschen sich nie die Hände, auch nicht nach dem Gang auf die Toilette. Vom Aufstehen bis zum Bettgang, beides zumeist nur widerwillig, ist die Kappe oder die Mütze auf dem Kopf. Gegrüßt wird nur bei vorgehaltener Schusswaffe...

Übertreiben Sie jetzt nicht etwas?

Ich übertreibe keineswegs. Internatserzieher zu sein, ist wirklich ein hartes Los. Viele der Pädagogen fühlen sich machtlos und überfordert, werden krank, fangen an zu saufen, fehlen häufig. Die Personalfluktuation in den Internaten ist extrem hoch. Bis vor wenigen Jahren wurde die Erziehungsmisere der Internate auch offen eingeräumt und bitter beklagt. Doch plötzlich ist dann der Rattenfänger von Hameln gekommen und hat alle Erziehungsschwierigen weggefangen.

Den oft beschworenen oder viel beredeten Imagewandel der Internate gibt es also gar nicht?

Ich finde Ihren Ausdruck >oft beschworen< sehr zutreffend. Diese Imagekampagne für Internate hat etwas von magischem Denken. Da wird wirklich etwas beschworen, etwas verzweifelt herbeigeredet, was man sich vielleicht dringend wünscht, was aber keineswegs Realität ist. Nach meiner Beobachtung beginnen die PR-Strategen der Internate bereits wieder zurück zu rudern. Mit dem ganzen Geschwätz über Internate als Stätten einer neuen Elite-Erziehung hat man sich zu weit vorgewagt. Die Menschen im Lande sind ja nicht blöd. Die merken doch, dass die Zahl der Verhaltens-, Lern- und Leistungsgestörten, der neurotischen, depressiven und psychotischen jungen Menschen allgemein dramatisch zunimmt. Wie kann es dann sein, dass diese Situation sich ausgerechnet in den Internaten plötzlich umdreht, nachdem diese sich über Jahrzehnte gerade zu der letzten Anlaufstelle für Problemkinder entwickelt haben. Ich stelle das genaue Gegenteil eines Imagewandels fest: Internate sind mehr und mehr an die letzte Stelle der Hilfekette gerückt. Wenn alle Psychologen und Therapeuten ihr Pulver verschossen haben, heißt es: Versuchen sie es doch mal mit einem Internat. Nach meinem Eindruck sollte das Gerede von einem Imagewandel der Internate wieder halbwegs passable Schüler in die Internate locken, weil diese der schwierigen Kinder nicht mehr Herr werden und nicht mehr funktionieren. Man sieht das ja in Salem: Die Vorarbeiter oder Funktionshäftlinge aus der Schülerschaft, ohne die so ein Massenbetrieb durch die Erwachsenen gar nicht regierbar und kontrollierbar wäre, sind zumeist Stipendiaten, die sich den Zutritt zum erlauchten Kreis der Besserverdiener-Kids durch besonderes Engagement verdienen müssen, während die Reichen es sich bequem machen. Sie sorgen durch ihre besseren Schulleistung dann auch noch für passable Abiturergebnisse und einen besseren Ruf der Schule, von dem dann auch diejenigen profitieren können, die hierzu eher weniger beigetragen haben. Die Imagewerbung der Internate dient nach meinem Eindruck vor allem dazu, begabte Kinder aus der Mittelschicht als Stipendiaten in solche Internate zu locken, die sich die Eltern normalerweise gar nicht leisten könnten. Hierbei appelliert man an die Geltungssucht von geringer Verdienenden, die man aber nur als nützliche Idioten missbraucht. Der versprochene soziale Aufstieg über die Netzwerke der Reichen und Einflussreichen ist nämlich im Stipendium nicht inbegriffen. Und er ist auch nicht Bestandteil des Internatsvertrags. Die Klassenschranken werden bei Salem & Co. ja nur ein wenig zugekleistert, weil man die Stipendiaten zur Imagepflege dieser im Grunde verfassungswidrigen Standesschulen und Reiche-Kinder-Verwahranstalten gerade dringend benötigt. Trotzdem bleiben Adel und Geldadel schon im Internat und erst recht im späteren Leben unter sich. Der soziale Aufstieg zu ermäßigten Kosten im Luxusinternat ist blanke Illusion.

Jetzt werden Sie polemisch.

Überhaupt nicht. Sie können sich durch die Internatsliteratur aller Länder kreuz und quer hindurchlesen: Immer und überall treffen Sie auf das Aschenputtel-Motiv des armen Stipendiaten im Internat, der am Katzentisch sitzt und von den reichen Kindern gemobt, ausgegrenzt oder bestenfalls ausgenutzt wird.

Aber die Stipendiaten sind ihren besser situierten Mitschülern gegenüber doch oft im Vorteil, weil sie z.B. leistungsorientierter sind und schulisch erfolgreicher?

Und Sie glauben, dass das vor Ausgrenzung schützt? Schauen Sie sich doch die Situation in normalen Tagesschulen an. Da gilt der leistungsbereite und entsprechend erfolgreiche Schüler als Streber und wird im günstigsten Fall belächelt und ausgenutzt, indem man von ihm abschreibt. Noch stärker haben oft hochbegabte Kinder zu leiden. Das gilt übrigens auch für sogenannte Hochbegabten-Internate mit integrierter Förderung, wo also die üblichen Schulversager und die Superintelligenten unter einem Dach leben. Schwächere Schüler, so hat es der Erfurter Psychologe Professor Ernst Hany ausgedrückt, erleben die Spitzenschüler als unerreichbare Ideale und retten ihr Selbstbild dadurch, dass sie ihnen aggressiv und bösartig zusetzen oder sie eben spüren lassen, dass sie finanziell nicht mithalten können. Oft haben Kinder sehr wohlhabender und erfolgreicher Eltern, die in der Schule versagen, ein besonders geringes Selbstwertgefühl. Sie leiden gleichzeitig unter dem Neid der weniger Betuchten als auch unter Unsicherheit und Ängsten, die daraus resultieren, dass sie ihren Wohlstand ja nicht eigener Leistung verdanken und nicht wissen, wie sie bei Verlust des Reichtums wieder auf die Beine kommen sollten. Solche Kinder oder Jugendlichen entwickeln starke Hassgefühle gegenüber Kameraden, denen das Lernen leicht fällt, die im Alltag hervorragend klar kommen und aufgrund ihres Könnens unter Umständen eine große Selbstsicherheit entwickeln. Dieser Hass wird natürlich noch gesteigert, wenn die Streber aufgrund ihrer Zuverlässigkeit und Verantwortungsbereitschaft oder einfach nur aufgrund der Tatsache, dass sie sich Jahr für Jahr ihr Stipendium durch besonderes Engagement neu verdienen müssen, praktisch als Hilfserzieher missbraucht werden und helfen müssen, ihre Mitschüler zu kontrollieren und zu disziplinieren.

Was raten Sie denn Eltern, die auf die Internatswerbung hereinfallen und ihr vielseitig begabtes Musterkind zwecks allseitiger Entfaltung seiner guten Eigenschaften in einem vermeintlichen Elite-Institut anmelden wollen?

Ratsuchende mit solchen Musterkindern sind nach wie vor die absolute Ausnahme. Selbst wenn der erste Anschein auf ein gut begabtes und charakterlich einwandfreies Kind hindeutet, stellen sich bei näherem Hinsehen oder Kennenlernen zumeist doch noch irgendwelche Handikaps oder die berühmten Leichen im Keller heraus. Es ist einfach so: Niemand, der ein gut gelungenes Kind hat und es selbst optimal betreuen und fördern kann, wird es ohne Not in fremde Obhut geben. Denn ein solches Juwel aufwachsen und heranreifen zu sehen, ist eine unglaubliche Bereicherung, ein unbeschreibliches Glück. Nach meinem Gefühl ist es das Beste, was einem das Leben überhaupt schenken kann. Deshalb kann ich mir kaum vorstellen, dass die Verlockungen selbst des prächtigsten Märchen-schlosses oder die schönsten Karriereaussichten Eltern veranlassen können, sich ohne Not von ihrem Kind zu trennen. Aber man muss natürlich auch sehen, dass die Kinder dasschützende Nest des Elternhauses einmal verlassen müssen, um auf eigenen Füßen zu stehen. 

Und sind Internate nicht gerade eine gute Vorbereitung auf ein selbständiges Leben?

So pauschal möchte ich das nicht bestätigen. Heranwachsende wollen oft schon früh vom Elternhaus unabhängig sein, möglichst eine eigene Wohnung beziehen, um endlich machen zu können, was sie wollen. Es zeigt sich aber oft auch, dass diese jungen Erwachsenen in keiner Weise alltagstauglich und mit der Selbständigkeit überfordert sind. Hier könnten Internate natürlich eine wichtige Funktion erfüllen und auf ein eigenverantwortliches Leben vorbereiten.

Was sie aber nicht tun?

Was sie deswegen nicht tun, weil es eben mit Zucht und Ordnung im Internat nicht weit her ist. Die Internate wollen für Jugendliche und Heranwachsende, die heute die Auswahlentscheidung oft allein treffen dürfen, attraktiv sein. Deshalb werden viele Freiheiten ge-währt, aber kaum Pflichten abverlangt. Die Jungen dürfen demokratisch mitentscheiden, tragen aber letztlich keine Verantwortung, nicht mal die für sich selbst. Gerade die sozial exklusiven Internate sind zumeist zu Versorgungsbetrieben degeneriert, die den Schülern alles vor den Hintern tragen und sie dadurch hospitalisieren. Sätze wie „Ich habe dort gelebt wie eine kleine Made im Speck!“ oder „Wir sind da von vorn bis hinten bedient worden!“ – das schreiben z.B. Ehemalige der Landerziehungsheime Louisenlund und Schloss Stein – sagen doch im Grunde alles. Dieses ganze Gerede von Werten, Anspruch und Disziplin, das jetzt durch die Medien geistert, das darf man einfach nicht auf die Goldwaage legen. Die Strafen, selbst die für schwerste Regelverstöße sind zumeist lächerlich gering und werden bis ultimo zur Bewährung ausgesetzt, um möglichst wenig zahlende Schüler zu verlieren. Und von wegen Vorbereitung auf die Härten des Lebens: In Salem, dem angeblich strengsten Internat, leisten die Schüler gerade mal einen Tag Küchendienst – natürlich pro Jahr. Zucht und Ordnung weichgespült. Das ist alles nur Show.

 

Interview: Lorenz Hasselmann

   
 
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