BXVI Katechesen VI
BXVI Katechesen VI






 

Papst Benedikt XVI.:

Katechesen zum Paulusjahr

Teil V.  (21. Jan. - 4. Feb. 2009)

 

Der heilige Paulus, Vorbild und Ansporn zur Festigung der christlichen Identität

Katechese während der Generalaudienz am 4. Februar 2009

"Liebe Brüder und Schwestern!

Die Reihe unserer Katechesen über die Gestalt des heiligen Paulus ist zu ihrem Abschluss gekommen: wir wollen heute über das Ende seines irdischen Lebens sprechen. Die antike christliche Überlieferung bezeugt einvernehmlich, dass der Tod des Paulus infolge seines hier in Rom erlittenen Martyriums erfolgte. Die Schriften des Neuen Testaments sprechen nicht davon. Die Apostelgeschichte endet ihren Bericht mit dem Hinweise auf die Gefangenschaft des Apostels, der dennoch alle empfangen konnte, die zu ihm kamen (Apg 28,30-31). Allein im zweiten Brief an Timotheus finden wir diese seine vorausahnenden Worte: „Denn ich werde nunmehr geopfert, und die Zeit meines Aufbruchs ist nahe“ (2 Tim 4,6; vgl. Phil 2,17). Hier werden zwei Bilder benutzt, das kultische Bild des Opfers, das er schon im Brief an die Philipper verwendet hatte, als er das Martyrium als einen Teil des Opfers Christi interpretierte, und jenes aus dem Seemannsleben vom Ankerlichten und Aufbrechen: zwei Bilder, die zusammen vorsichtig auf das Ereignis des Todes und eines gewaltsamen Todes anspielen.

Das erste ausdrückliche Zeugnis über das Ende des heiligen Paulus stammt aus der Mitte der neunziger Jahre des ersten Jahrhunderts, somit wenig mehr als drei Jahrzehnte nach seinem Tod. Genauer gesagt handelt es ich um den Brief, den die Kirche Roms in der Person ihres Bischofs Clemens I. an die Kirche von Korinth schrieb. In jenem Brieftext wird dazu aufgefordert, das Vorbild der Apostel vor Augen zu haben, und sofort nach der Erwähnung des Martyriums des Petrus ist zu lesen: „Wegen Eifersucht und Streit hat Paulus den Kampfpreis der Geduld aufgewiesen: Siebenmal Ketten tragend, vertrieben, gesteinigt, Herold im Osten wie im Westen, hat er den edlen Ruhm für seinen Glauben empfangen. Gerechtigkeit hat er die ganze Welt gelehrt, bis an die Grenze des Abendlandes ist er gekommen, und hat Zeugnis abgelegt vor den Führenden; so ist er aus der Welt geschieden und ist an den heiligen Ort gelangt – größtes Vorbild der Geduld“ (1 Clem 5,2). Die Geduld, von der die Rede ist, ist Ausdruck seiner Anteilhabe am Leiden Christi, der Großherzigkeit und Ausdauer, mit der er einen langen Weg des Leidens akzeptiert hat, so dass er sagen kann: „Ich trage die Zeichen Jesu an meinem Leib“ (Gal 6,17). Im Text des heiligen Clemens haben wir gehört, dass Paulus „bis an die Grenze des Abendlandes“ gekommen sei. Es wird diskutiert, ob damit eine Reise nach Spanien angedeutet werden soll, die der heilige Paulus unternommen haben soll. Darüber besteht keine Gewissheit, aber es stimmt, dass der heilige Paulus in seinem Brief an die Römer die Absicht zum Ausdruck bringt, nach Spanien zu gehen (vgl. Röm 15,24).

Sehr interessant im Klemensbrief ist hingegen die Aufeinanderfolge der beiden Namen des Petrus und des Paulus, auch wenn sie im Zeugnis des Eusebius von Cäsarea aus dem 4. Jahrhundert invertiert werden, der über den Kaiser Nero spricht und dabei schreibt: „Wie berichtet wird, wurde Paulus eben in Rom unter Nero enthauptet und Petrus gekreuzigt. Dieser Bericht wird bestätigt durch die noch bis heute erhaltenen Namen Petrus und Paulus in den römischen Zömeterien“ (Hist.eccl. 2,25,5). Eusebius fährt dann fort und gibt eine frühere Erklärung eines römischen Priesters namens Gaius wieder, die auf die Anfänge des 2. Jahrhunderts zurückgeht: „Ich kann die Siegeszeichen der Apostel zeigen. Du magst auf den Vatikan gehen oder auf die Straße nach Ostia, du findest die Siegeszeichen der Apostel, welche diese Kirche gegründet haben“ (ebd. 2,25,6-7). Die „Siegeszeichen“ sind die Grabmäler, und es handelt sich um die Grabstätten des Petrus und des Paulus, die wir noch heute nach zwei Jahrtausenden an denselben Orten verehren: sowohl hier im Vatikan, was den heiligen Petrus betrifft, als auch in der Basilika St. Paul vor den Mauern an der Via Ostiense, was den Völkerapostel betrifft.

Es ist interessant festzustellen, dass die beiden Apostel gemeinsam erwähnt werden. Auch wenn keine antike Quelle davon spricht, dass sie in Rom gleichzeitig wirksam waren, wird sie das nachfolgende christliche Bewusstsein aufgrund ihres gemeinsamen Bestattungsortes in der Hauptstadt des Reiches auch als gemeinsame Gründer der Kirche von Rom betrachten. So ist in der Tat in Irenäus von Lyon gegen Ende des 2. Jahrhunderts zur apostolischen Sukzession in den verschiedenen Kirchen zu lesen: „Weil es aber zu weitläufig wäre, in einem Werke wie dem vorliegenden die apostolische Nachfolge aller Kirchen aufzuzählen, so werden wir nur die apostolische Tradition und Glaubenspredigt der größten und ältesten und allbekannten Kirche, die von den beiden ruhmreichen Aposteln Petrus und Paulus zu Rom gegründet und gebaut ist, darlegen“ (Adv. haer. 3,3,2).

Lassen wir nun aber die Gestalt des Petrus beiseite und konzentrieren wir uns auf Paulus. Sein Martyrium wird zum ersten Mal von den Paulusakten erzählt, die gegen Ende des 2. Jahrhunderts verfasst worden sind. Sie berichten, dass Nero ihn zum Tode durch Enthauptung verurteilte, was sofort darauf ausgeführt wurde (vgl. 9,5). Das Datum des Todes variiert schon in den antiken Quellen, die es zwischen der von Nero selbst entfachten Verfolgung nach dem Brand von Rom im Juli 64 und dem letzten Jahr seiner Herrschaft, dem Jahr 68, ansetzen (vgl. Hieronymus, De viris ill. 5,8). Die Berechnung hängt sehr von der Chronologie der Ankunft des Paulus in Rom ab, eine Diskussion, in die wir hier nicht eintreten können. Spätere Überlieferungen werden zwei weitere Elemente präzisieren. Das eine und legendärste besteht darin, dass es zum Martyrium bei den Acquae Salviae an der Via Laurentina kam, wobei das Haupt dreimal aufgeschlagen sein soll und dort drei Quellen entsprungen sind, so dass der Ort – bis zum heutigen Tag – „Tre Fontane“ (Drei Quellen) genannt wurde (Pseudo-Marcellus: Passio sanctorum Petri et Pauli, 5. Jahrhundert). Das andere Element besteht in Übereinstimmung mit dem alten, bereits erwähnten Zeugnis des Priesters Gaius darin, dass es zu seiner Bestattung nicht nur „außerhalb der Stadt an der Via Ostiense“, sondern genauer „auf dem Gut der Lucina“ kam, einer christlichen adeligen Frau (Pseudo-Abdias: Passio Pauli, 6. Jahrhundert). An dieser Stelle errichtete Kaiser Konstantin im vierten Jahrhundert eine erste Kirche, die dann zwischen dem 4. und dem 5. Jahrhundert von den Kaisern Valentinianus II., Theodosius und Arcadius in großem Stil erweitert worden ist. Nach dem Brand im 19. Jahrhundert wurde an dieser Stelle die heutige Basilika St. Paul vor den Mauern errichtet.

Auf jeden Fall leuchtet die Gestalt des Paulus in ihrer Größe bei weitem jenseits seines irdischen Lebens und Sterbens; er hat uns nämlich ein außerordentliches geistliches Erbe hinterlassen. Auch er wurde als wahrer Jünger Jesu Zeichen des Widerspruches. Während er bei den so genannten „Eboniten“ – einer judenchristliche Strömung – als vom mosaischen Gesetz Abgefallener angesehen war, tritt bereits im Buch der Apostelgeschichte eine große Verehrung gegenüber dem Apostel Paulus zutage. Ich möchte jetzt von den apokryphen Texten absehen, wie den Akten des Paulus und der Theklas und einem apokryphen Briefwechsel zwischen dem Apostel Paulus und dem Philosophen Seneca. Wichtig ist vor allem die Feststellung, dass die Briefe des heiligen Paulus bald in die Liturgie Eingang finden, wo die Struktur Prophet-Apostel-Evangelium für die Form des Wortgottesdienstes bestimmend ist. So wird das Denken des Apostels dank dieser „Gegenwart“ in der Liturgie der Kirche sofort zur geistlichen Nahrung für die Gläubigen aller Zeiten.

Es ist offensichtlich, dass sich die Kirchenväter und dann alle Theologen von den Briefen des heiligen Paulus und ihrer Spiritualität gespeist haben. So ist er über die Jahrhunderte hinweg bis heute der wahre Meister und Apostel der Völker geblieben. Der erste auf uns überkommene patristische Kommentar zu einer Schrift des Neuen Testaments ist jener des großen alexandrinischen Theologen Origenes, der den Brief des Paulus an die Römer kommentiert. Dieser Kommentar ist leider nur teilweise erhalten. Der heilige Johannes Chrysostomus hat neben Kommentaren zu seinen Briefen sieben denkwürdige Panegyrikoi über ihn verfasst. Der heilige Augustinus wird ihm den entscheidenden Schritt seiner Bekehrung verdanken, und auf Paulus wird er während seines ganzen Lebens zurückkehren. Aus diesem ständigen Dialog mit dem Apostel stammt seine große katholische Theologie, und auch für die protestantische aller Zeiten. Der heilige Thomas von Aquin hat uns einen schönen Kommentar zu den Paulusbriefen hinterlassen, der die reifste Frucht der mittelalterlichen Exegese darstellt. Zu einer wahren Wende kam es im 16. Jahrhundert mit der protestantischen Reformation. Das entscheidende Moment im Leben Luthers war das so genannte „Turmerlebnis“ (1517), in dem er mit einem Schlag eine neue Interpretation der paulinischen Rechtfertigungslehre fand. Eine Interpretation, die ihn von den Schuldgefühlen und Ängsten seines vorhergehenden Lebens befreite und ihm ein neues, radikales Vertrauen auf die Güte Gottes schenkte, der alles bedingungslos vergibt. Von jenem Moment an identifizierte Luther die jüdisch-christliche, vom Apostel verurteilte Werkgerechtigkeit mit der Lebensordnung der katholischen Kirche. Und die Kirche erschien ihm somit Ausdruck der Knechtschaft des Gesetzes zu sein, der er die Freiheit des Evangeliums entgegenstellte, in Übereinstimmung mit der Botschaft der in ihrer Ganzheit und Einheit gelesenen Heiligen Schrift.

Das 19. Jahrhundert nahm das beste Erbe der Aufklärung auf und sah so ein neues Aufleben des Paulinismus, dies jetzt vor allem auf der Ebene der wissenschaftlichen Arbeit, die von der historisch-kritischen Interpretation der Heiligen Schrift entwickelt wurde. Wir sehen hier von der Tatsache ab, dass auch in diesem Jahrhundert, wie dann im 20. Jahrhundert, eine richtiggehende Verunglimpfung des heiligen Paulus zutage trat. Ich denke vor allem an Nietzsche, der die Theologie der Demut des heiligen Paulus verlachte und ihr seine Theologie des starken und mächtigen Menschen entgegenstellte. Davon aber sehen wir ab; wir betrachten die wesentliche Strömung der neuen wissenschaftlichen Interpretation der Heiligen Schrift und des neuen Paulinismus in diesem Jahrhundert. Hier wurde vor allem der Begriff der Freiheit als zentraler Begriff des Denkens des Paulus hervorgehoben: in ihm wurde das Herz des paulinischen Denkens gesehen, wie dies im übrigen bereits Luther erfasst hatte. Jetzt aber wurde der Begriff der Freiheit neu im Kontext des modernen Liberalismus interpretiert. Und es wurde dann stark der Unterschied zwischen der Verkündigung des Paulus und der Verkündigung Christi betont. Und der heilige Paulus erscheint als ein neuer Gründer des Christentums. Wahr ist, dass in Paulus die Zentralität des Reiches Gottes, die für die Verkündigung Jesu bestimmend ist, in die Zentralität der Christologie umgeformt wird, deren ausschlaggebender Punkt das Ostergeheimnis ist. Und aus dem Ostergeheimnis ergeben sich die Sakramente der Taufe und der Eucharistie als bleibende Gegenwart dieses Geheimnisses, dem der Leib Christi erwächst, das Geheimnis, von dem aus die Kirche errichtet wird. Ich würde aber sagen, ohne mich jetzt mit Details zu beschäftigen, dass gerade in der neuen Zentralität der Christologie und des Ostergeheimnisses das Reich Gottes verwirklicht wird, konkret, gegenwärtig und die wahre Botschaft Christi verwirklicht wird. Wir haben in den vorhergehenden Katechesen gesehen, dass gerade diese paulinische Neuheit die tiefste Treue gegenüber der Verkündigung Jesu darstellt. Im Fortschritt der Exegese, vor allem der letzten 200 Jahre, wachsen auch die Konvergenzen zwischen der katholischen und der protestantischen Exegese, wodurch ein bemerkenswerter Konsens gerade bezüglich des Punktes erreicht wird, der der Ursprung des höchsten geschichtlichen Dissenses war. Also: eine große Hoffnung für die für das II. Vatikanische Konzil so zentrale Sache des Ökumenismus.

Zum Schluß möchte ich kurz noch auf die verschiedenen religiösen Bewegungen eingehen, die in der Moderne innerhalb der katholischen Kirche entstanden sind und sich auf den Namen des heiligen Paulus berufen. So geschah es im 16. Jahrhundert mit der „Kongregation des heiligen Paulus“, den so genannten Barnabiten, im 19. Jahrhundert mit den „Missionaren des heiligen Paulus“ oder Paulisten, und im 20. Jahrhundert mit der vielgestaltigen „Paulus-Familie“, die von seligen Giacomo Alberione gegründet wurde, um nicht vom Säkularinstitut der „Gesellschaft des heiligen Paulus“ zu sprechen. Grundlegend gesagt steht vor uns leuchtend die Gestalt eines Apostels und äußerst fruchtbaren und tiefen christlichen Denkers, aus dessen Nähe jeder Gewinn ziehen kann. In einem seiner Panegyrikoi stellte der heilige Johannes Chrysostomus einen originellen Vergleich zwischen Paulus und Noah an und drückte sich dabei so aus: Paulus „stellte keine Balken zusammen, um eine Arche zu bauen; statt Holzbretter miteinander zu verbinden, verfasste er vielmehr Briefe, und so entriss er den Fluten nicht zwei, drei oder fünf Glieder seiner Familie, sondern die gesamte Oikumene, die dabei war, unterzugehen“ (Paneg. 1,5). Gerade dies kann der heilige Paulus noch immer und für immer bewirken. Aus ihm schöpfen, sowohl aus seinem apostolischen Vorbild als auch aus seiner Lehre, wird somit ein Antrieb, wenn nicht gar eine Garantie für die Festigung der christlichen Identität eines jeden von uns und für die Verjüngung der ganzen Kirche sein.

[deutsche Zusammenfassung:]

Liebe Brüder und Schwestern!

In den Mittwochskatechesen der vergangenen Monate haben wir uns mit dem Leben des Apostels Paulus und seiner Verkündigung beschäftigt. Diese Themenreihe wollen wir nun mit einem Blick auf sein Lebensende und auf die unmittelbare Nachwirkung seiner Gestalt beschließen. Die Quellen berichten einhellig, dass Paulus hier in Rom den Märtyrertod erlitten hat. Schon im 2. Timotheusbrief wird dies angedeutet: „Denn ich werde nunmehr geopfert, und die Zeit meines Aufbruchs ist nahe“ (4, 6). Der so genannte Klemensbrief, der wohl um das Jahr 96 hier in Rom abgefasst wurde, erwähnt, dass Paulus vor den Herrschenden das Martyrium erlitten hat. Die Paulusakten vom Ende des 2. Jahrhunderts sprechen davon, dass Kaiser Nero die Enthauptung von Paulus befohlen hat und dieses Urteil sogleich vollstreckt wurde. Später fassbare Traditionen geben einen Hinweis auf den möglichen Ort der Hinrichtung – Tre Fontane, wie er entsprechend der Legende heißt, nach der das Haupt des Heiligen dreimal aufgeschlagen ist und dort drei Quellen entsprungen sind – wie auch auf die Begräbnisstätte, über der sich heute die Basilika Sankt Paul vor den Mauern erhebt. Schon von frühester Zeit an wird Paulus gemeinsam mit Petrus als Gründer der Kirche von Rom verehrt, auch wenn es keinen direkten Anhaltspunkt für eine direkte Zusammenarbeit gibt. Aber es wird damit die Bedeutung des Apostels zu Ausdruck gebracht, der immer wieder Menschen inspiriert hat, sich als Christen zu bewähren und das Antlitz der Kirche durch ihr Wirken zu verjüngen."

 

 

Die Kirche – Familie Gottes

Katechese während der Generalaudienz am 28. Januar 2009

 

"Liebe Brüder und Schwestern!

Die letzten Briefe des paulinischen Briefwerkes, über die ich heute sprechen möchte, werden „Pastoralbriefe" genannt, da sie einzelnen Hirtengestalten der Kirche übersandt wurden: zwei an Timotheus, und einer an Titus - beides enge Mitarbeiter des heiligen Paulus. In Timotheus sah der Apostel gleichsam ein zweites Ich. Er vertraute ihm auch tatsächlich besondere Missionen an (in Makedonien, vgl. Apg 19,22; in Thessalonich, vgl. 1 Thess 3,6-7; in Korinth, vgl. 1 Kor 4,17 bzw. 16,10-11), und dann schrieb er eine schmeichelhafte Lobeshymne auf ihn: „Ich habe keinen Gleichgesinnten, der so aufrichtig um eure Sache besorgt ist" (Phil 2,20). Nach der Kirchengeschichte des Eusebius von Cäsarea aus dem 4. Jahrhundert war Timotheus der erste Bischof von Ephesus (vgl. 3,4). Was Titus betrifft, so musste auch er dem Apostel sehr teuer gewesen sein, der ihn ausdrücklich als einen Mann „voller Eifer" beschreibt und ihn „mein Gefährte und mein Mitarbeiter" nennt (2 Kor 8,17.23). Ja, mehr noch, er bezeichnet ihn als „seinen echten Sohn aufgrund des gemeinsamen Glaubens" (Tit 1,4). Titus war mit einigen sehr heiklen Missionen in der Kirche von Korinth beauftragt worden, deren Ergebnis Paulus erfreute (vgl. 2 Kor 7,6-7.13; 8,6). Soweit uns überliefert ist, kam Titus später mit Paulus in Nikopolis in Epirus in Griechenland zusammen (vgl. Tit 3,12) und wurde dann von ihm nach Dalmatien entsandt (vgl. 2 Tim 4,10). Laut dem an ihn gerichteten Brief ist er dann Bischof von Kreta gewesen (vgl. Tit 1,5).

Die Briefe, die an diese beiden Hirten adressiert sind, haben innerhalb des Neuen Testaments einen ganz besonderen Stellenwert. Die Mehrheit der Exegeten ist heute der Ansicht, dass diese Briefe nicht von Paulus selbst verfasst worden sind, sondern dass ihr Ursprung in der „Schule des Paulus" liegt. Dieser Ursprung spiegle sein Erbe für eine neue Generation wider, wobei vielleicht einige kurze Schriften oder Worte des Apostels selbst eingearbeitet worden seien. Zum Beispiel scheinen einige Worte des zweiten Briefes an Timotheus so authentisch zu sein, dass sie nur aus dem Herzen und dem Mund des Apostels kommen können.

Zweifellos unterscheidet sich die kirchliche Situation, die aus diesen Briefen hervorgeht, von jener der zentralen Jahre des Lebens des Paulus. Er beschreibt sich nun im Rückblick als „Verkünder und Apostel und Lehrer" der Heiden im Glauben und in der Wahrheit (vgl. 1 Tim 2,7; 2 Tim 1,11). Er stellt sich als jemand dar, der Erbarmen gefunden hat, damit Jesus Christus - so schreibt er - „an mir als Erstem seine ganze Langmut beweisen konnte, zum Vorbild für alle, die in Zukunft an ihn glauben, um das ewige Leben zu erlangen" (1 Tim 1,16). Wesentlich also ist, dass in Paulus, dem bekehrten Verfolger der Gegenwart des Auferstandenen, die Großherzigkeit des Herrn als Ermutigung für uns aufscheint, damit wir uns veranlasst fühlen, zu hoffen und Vertrauen zu haben in das Erbarmen des Herrn, der trotz unserer Kleinheit große Dinge tun kann. Über die zentralen Jahre des Lebens des Paulus gehen auch die neuen hier vorausgesetzten kulturellen Zusammenhänge hinaus. Es wird nämlich auf die Ausformung von Lehren angespielt, die als völlig irrig und falsch anzusehen sind (vgl. 1 Tim 4,1-2; 2 Tim 3,1-5), wie die Lehren jener Menschen, die behaupteten, dass die Ehe nicht gut sei (vgl. 1 Tim 4,3a). Wir sehen, wie modern diese Sorge ist, da die Schrift auch heute ab und zu als Gegenstand historischer Wissbegier und nicht als Wort des Heiligen Geistes gelesen wird, in dem wir die Stimme des Herrn hören und seine Gegenwart in der Geschichte kennen lernen können. Wir könnten sagen, dass mit diesem kurzen Verzeichnis von Irrtümern, die diese Briefe aufweisen, einige Züge der späteren irrigen Ausrichtung vorweggenommen erscheinen, die unter dem Namen „Gnostizismus" bekannt ist (vgl. 1 Tim 2,5-6; 2 Tim 3,6-8).

Diesen Lehren tritt der Verfasser mit zwei grundlegenden Mahnungen entgegen. Die eine besteht im Verweis auf die geistliche Lesung der Heiligen Schrift (vgl. 2 Tim 3,14-17), das heißt eine Lesart, die sie als wirklich „inspiriert" und vom Heiligen Geist stammend betrachtet, so dass man von ihr „zum Heil erzogen" werden kann. Die Schrift wird recht gelesen, wenn man mit dem Heiligen Geist ins Gespräch kommt, um ihr so „zur Belehrung, zur Widerlegung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit" Licht zu entnehmen. In diesem Sinn fügt der Brief hinzu: „So wird der Mensch Gottes zu jedem guten Werk bereit und gerüstet sein" (2 Tim 3,17). Die andere Mahnung besteht in der Andeutung des kostbaren „Gutes" („parathéke"): Es handelt sich hierbei um ein besonderes Wort der Pastoralbriefe, mit dem die Überlieferung des apostolischen Glaubens zum Ausdruck gebracht wird, die es mit Hilfe des Heiligen Geistes, der in uns wohnt, zu hüten gilt. Dieses so genannte „Gut" ist demzufolge als die Summe der apostolischen Überlieferung und als Kriterium für die Treue gegenüber der Botschaft des Evangeliums anzusehen. Und hier müssen wir festhalten, dass in den Pastoralbriefen, genauso wie im gesamten Neuen Testament, der Begriff „Schrift" ausdrücklich das Alte Testament meint, da die Schriften des Neuen Testaments entweder noch nicht existierten oder noch nicht Teil des Schriftkanons waren. Die Überlieferung der apostolischen Verkündigung, dieses „Gut", ist also der Leseschlüssel, um die Schrift, das Neue Testament zu verstehen. In diesem Sinne werden Schrift und Tradition, Schrift und apostolische Verkündigung als Leseschlüssel nebeneinander gestellt und verschmelzen gleichsam, um gemeinsam das „feste Fundament" zu bilden, „das Gott gelegt hat" (2 Tim 2,19). Die apostolische Verkündigung, das heißt die Überlieferung, ist erforderlich, um in das Verständnis der Schrift eingeführt zu werden und dort die Stimme Christi zu erfassen. Denn es ist notwendig, ein Mann zu sein, „der sich an das wahre Wort der Lehre hält" (Tit 1,9). Die Grundlage von allem ist nämlich der Glaube an die geschichtliche Offenbarung der Güte Gottes, der in Jesus Christus seine „Menschenliebe" konkret gezeigt hat, eine Liebe, die im griechischen Originaltext sinnigerweise als „filanthropía" bezeichnet wird (Tit 3,4; vgl. 2 Tim 1,9-10): Gott liebt die Menschheit.

Insgesamt lässt sich gut erkennen, dass sich die christliche Gemeinde in sehr klaren Begriffen ausgestaltet, entsprechend einer Identität, die sich nicht nur von ungemäßen Interpretationen distanziert, sondern vor allem ihre eigene Verankerung in den wesentlichen Punkten des Glaubens behauptet, der hier gleichbedeutend mit „Wahrheit" ist (1 Tim 2,4.7; 4,3; 6,5; 2 Tim 2,15.18.25; 3,7.8; 4,4; Tit 1,1.14). Im Glauben tritt die wesentliche Wahrheit darüber hervor, wer wir sind, wer Gott ist, wie wir leben müssen. Und die Kirche wird als „die Säule und das Fundament" dieser Wahrheit (der Wahrheit des Glaubens) bezeichnet. Auf jeden Fall bleibt sie eine offene Gemeinschaft, die einen universalen Atem hat und für alle Menschen ohne Unterschied von Stand und Rang betet, damit sie zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen. „Gott will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen", da „Jesus Christus sich als Lösegeld hingegeben hat für alle" (1 Tim 2,4-6). Auch wenn die Gemeinden noch klein sind, ist für diese Briefe also der Sinn für die Universalität stark und bestimmend. Des Weiteren soll diese christliche Gemeinde „niemand schmähen" und „freundlich und gütig zu allen Menschen" sein (Tit 3,2). Dies ist ein erstes wichtiges Element in diesen Briefen: die Universalität und der Glaube als Wahrheit als Leseschlüssel der Heiligen Schrift, des Alten Testamtens, und so zeichnet sich eine Einheit von Verkündigung und Schrift sowie ein Glaube ab, der für alle offen und Zeuge der Liebe Gottes zu allen ist.

Ein weiteres Element, das für diese Briefe typisch ist, ist ihre Reflexion über die Amtsstruktur der Kirche. Sie legen zum ersten Mal die dreifache Einteilung in Bischöfe, Priester und Diakone vor (vgl. Tim 3,1-13; 4,13; 2 Tim 1,6; Tit 1,5-9). Wir können in den Pastoralbriefen das Zusammenfließen zweier unterschiedlicher Amtsstrukturen und somit die Ausbildung der definitiven Form des Amtes in der Kirche beobachten. In den paulinischen Briefen der zentralen Jahre seines Lebens spricht Paulus von „episcopi" (Phil 1,1) und „diaconi": Dies ist die typische Struktur der Kirche, die sich zu jener Zeit in der heidnischen Welt ausgebildet hat. Es bleibt daher die Gestalt des Apostels selbst dominierend, und so entwickeln sich die anderen Ämter nur Schritt für Schritt.

Wenn wir, wie gesagt, in den in der heidnischen Welt gebildeten Kirchen Bischöfe und Diakone und keine Priester haben, so stellen in den Kirchen, die sich in der jüdisch-christlichen Welt gebildet haben, die Priester die dominierende Struktur dar. In den Pastoralbriefen vereinen sich schließlich die beiden Strukturen: Jetzt erscheint „der Bischof" (vgl. 1 Tim 3,2; Tit 1,7), immer in der Einzahl, mit bestimmtem Artikel. Neben „dem Bischof" finden wir die Priester und Diakone. Noch immer ist die Gestalt des Apostels bestimmend, die drei Briefe aber sind, wie ich schon gesagt habe, nicht mehr an Gemeinden gerichtet, sondern an Personen: Timotheus und Titus, die einerseits als Bischöfe auftreten, andererseits die Stelle des Apostels einzunehmen beginnen.

So ist die Wirklichkeit in ihren Anfängen auszumachen, die später „apostolische Sukzession" genannt werden wird. Paulus sagt zu Timotheus im Tonfall großer Feierlichkeit: „Vernachlässige die Gnade nicht, die in dir ist und die dir verliehen wurde, als dir die Ältesten aufgrund prophetischer Worte gemeinsam die Hände auflegten" (1 Tim 4,14). Wir können sagen, dass in diesen Worten zum ersten Mal auch der sakramentale Charakter des Amtes zum Ausdruck kommt. Und so haben wir das Wesentliche der katholischen Struktur: Schrift und Tradition, Schrift und Verkündigung bilden eine Einheit, und zu dieser sozusagen „lehrmäßigen Struktur" muss die persönliche Struktur hinzukommen, die Nachfolger der Apostel, als Zeugen der apostolischen Verkündigung.

Es ist schließlich wichtig anzumerken, dass die Kirche in diesen Briefen in sehr menschlichen Begriffen verstanden wird, in Analogie zum Haus oder zur Familie. Besonders in 1 Tim 3,2-7 sind sehr detaillierte Anweisungen hinsichtlich des Bischofsamtes zu lesen, wie zum Beispiel diese: Er soll „ein Mann ohne Tadel sein, nur einmal verheiratet, nüchtern, besonnen, von würdiger Haltung, gastfreundlich, fähig zu lehren; er sei kein Trinker und kein gewalttätiger Mensch, sondern rücksichtsvoll; er sei nicht streitsüchtig und nicht geldgierig. Er soll ein guter Familienvater sein und seine Kinder zu Gehorsam und allem Anstand erziehen. Wer seinem eigenen Hauswesen nicht vorstehen kann, wie soll der für die Kirche Gottes sorgen? ... Er muss auch bei den Außenstehenden einen guten Ruf haben." Hier müssen vor allem die wichtige Neigung zur Lehre (vgl. auch 1 Tim 5,17), von der auch an anderen Stellen ein Widerhall zu finden ist (vgl. 1 Tim 6,2c; 2 Tim 3,10; Tit 2,1), sowie eine besondere persönliche Eigenschaft angemerkt werden, jene der „Väterlichkeit". Der Bischof wird nämlich als Vater der christlichen Gemeinde angesehen (vgl 1 Tim 3,15). Im Übrigen hat die Vorstellung von der Kirche als „Haus Gottes" ihre Wurzeln im Alten Testament (vgl. Num 12,7) und wird in Hebr 3,2-6 neu formuliert, während anderswo zu lesen ist, dass alle Christen nicht mehr Fremde ohne Bürgerrecht, sondern Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes sind (vgl. Eph 2,19).

Beten wir zum Herrn und zum heiligen Paulus, dass auch wir uns immer mehr als Christen auszeichnen können, in Bezug auf die Gesellschaft, in der wir leben, als Mitglieder der „Familie Gottes". Und beten wir auch, dass die Hirten der Kirche immer mehr väterliche, gleichzeitig zarte und starke Gefühle bei der Bildung des Hauses Gottes, der Gemeinde, der Kirche annehmen.

[deutsche Zusammenfassung:]

Liebe Brüder und Schwestern!

Im Verlauf des Paulusjahres behandle ich in den Katechesen der Generalaudienzen einige Kernthemen der Paulusbriefe. So kommen wir heute zu den drei so genannten Pastoralbriefen, die an Timotheus und an Titus gerichtet sind. Beide waren enge Mitarbeiter des Apostels und standen dann den Gläubigen von Ephesus beziehungsweise Kreta als Hirten und Bischöfe vor. In diesen Texten, die bereits eine gereifte Entwicklung und Struktur der christlichen Gemeinde widerspiegeln, spielen zwei Fragen eine besondere Rolle: Was verleiht Bestand inmitten falscher Lehren und welche Anforderungen werden an den Bischof gestellt, der aus den übrigen Dienstämtern der Priester und der Diakone herausragt? Die Gemeinde kann in stürmischen Zeiten der Verwirrung nur durch ein weises Verständnis der Schrift und durch die Bewahrung des anvertrauten Glaubensguts bestehen; denn beides verankert sie in dem Fundament, das Gott durch die Offenbarung seiner Liebe in Christus gelegt hat. Dementsprechend ist das Festhalten an der Lehre und die Fähigkeit, andere im Glauben zu unterweisen, auch eine Hauptanforderung an den Bischof. Seine Aufgabe können wir besser verstehen, wenn wir die Kirche mit den Pastoralbriefen als Haus und Familie Gottes betrachten. Der Bischof ist gleichsam der Vater der Gemeinde, der in väterlicher Güte und zugleich mit der nötigen Stärke für Gottes Kinder sorgen muss.

 

Am 21. Januar unterbrach der Heilige Vater seine Reihe von Katechesen zum Paulusjahr

 





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