Mein großer Bruder
 

Werni

 


geb. am 15. Juli 1927, ...


Werni ganz klein

8 Monate alt

Mit Mutti auf der Wiese

1 Jahr alt


Skeptisch

3 Jahre alt

1. Schuljahr

6 Jahre alt

Herausgeputzt

10 Jahre alt

Meine Mama

8 Jahre alt

Auf Reisen

11 Jahre alt

Gemalt 1939

Werni hat sehr gern
gemalt, u.a. diesen
Hirsch, als er 12 Jahre
alt war.

Nachdenklich

11 Jahre alt



Familie auf der Bank

12 Jahre alt


Kindheit 1944

Ich finde mich so manches Mal in meinen Träumen
vor einem Haus, aus dem die Mutter nach mir ruft.
Ein warmes Licht schwebt in des Hauses Räumen,
vom nahen Fluss herüber weht vertrauter Duft
nach Sand und Wasser, faulem Schlamm und Wiesen,
darüber leicht ein weißer Nebel schwelt;
und aus dem Nebel tritt das Bildnis eines jungen Riesen,
der mir in sanftem Ton von dieser Welt erzählt:
Mein großer Bruder! Irgendwo auf einem Bahnsteig
hör' leise ich ihn sagen: "Ich komm' bald zurück."
Ich seh' der Mutter Tränen und lange noch ein fernes Winken,
und über mir - ganz fremd - des Vaters Blick.

Mein großer Bruder kehrte  n i e  zurück.



Familie am Bodensee

12 Jahre alt

Mutti u. ich bei W. in Stendal
          

Noch 16 Jahre alt, Juni 1944 zum
Arbeitsdienst nach Stendal einberufen

Die meisten sind nicht viel älter geworden


... und in Altengrabow bei Magdeburg für den Einsatz gegen den Feind "wehrertüchtigt"...
 

... im August 1944 zur Kriegsmarine auf die Insel Sylt (Keitum) abkomandiert,wo er ein gutes halbes Jahr bei Ausbildung und sonstigem Zeitvertreib (da er gut malen konnte, musste er die

Ein Junge (12) begeistert sich für Flugzeuge

 

Mannschaftsräume mit Bildern  ausschmücken),  auf seinen Einsatz wartete.Der 
erfolgte, als das "Tausendjährige Reich" am Boden lag und die Alliierten bereits in Deutschland waren.

Las Letzte

Das letzte Bild

... gefallen in einem sinnlosen Kampf gegen britische Panzereinheiten

am 02. Mai 1945
auf den Elmer Höhen bei Bremervörde, noch keine 18 Jahre alt.

Mit noch einem Kameraden wurde er am Ort des Geschehens begraben und die  Gräber von der Gemeinde solange gepflegt, bis die beiden später auf dem Soldatenfriedhof in Gyhum (Niedersachsen) unter
vielen anderen Gefallenen ihre endgültige Ruhestätte gefunden haben.


Erlebtes und Erdachtes
 
Fünf Stunden und ein ganzes Leben

Knapp einen Monat vor dem 13. September 1981 hatte ich meiner Mutter behutsam eröffnet, ich bekäme nun endlich eine eigene Wohnung. Sie quittierte es mit Schweigen und unbewegter Miene.

An jenem Tag ließ sie sich ihr Bett auf der Couch im Wohnzimmer bereiten und fortan alle Tage danach. So hatte sie uns immer fest im Visier. Einige Male noch stand sie auf. Dann ließ sie auch das und erwartete von uns wortlos uneingeschränkte Aufmerksamkeit, während ich darüber nachdachte, wie ich auch sie in meiner neuen Wohnung unterbringen könnte.
Seit Tagen konnte sie nichts mehr erkennen.

Es war der zweite Sonntag in jenem September, als mich nachts um halb Eins ein klagender Laut aus ihrem Mund weckte. Ich stürzte an ihr Bett.
„Mutter, was hast du?“

„Wo ist Stefan?“ Ihre Stimme war klar und lebhaft wie schon lange nicht mehr.

„Arbeiten, Mutter, er hat Nachtschicht. Aber das hat er dir doch gestern erzählt.“

Schweigen, dann zögernd: „Wie alt ist er eigentlich?“

„Zwanzig, Mutter, schon längst erwachsen.“ Mir war elend zumute.

„Und wo arbeitet er?“

„Bei Fahlberg-List, Mutter, da, wo du früher auch mal gearbeitet hast.“

Dann, nach langer Pause, scheinbar zusammenhanglos: „Ja, das ist schon lange her, das mit dem Feuer.“

Ich wusste, wovon sie sprach und schwieg.

„Und Michael?“ kam es plötzlich.

„Michael ist sechzehn und hat gerade die zehnte Klasse beendet. In zwei Jahren macht er sein Abitur.“

„Das ist schön.“ Der Regulator tickte. In meinem Kopf sauste es. „Wo ist Gerhard eigentlich?“ Sie sprach von ihrem Mann, meinem Vater, und ich begriff: Sie zieht Bilanz.

 „Papa ist schon 1959 gestorben.“ Ich sagte bewusst ‚gestorben‘ und vermied die Worte ‚freiwillig gegangen‘. Sie nickte in ihr Kopfkissen hinein, als bestätige sie ihre noch einmal aufkommende Erinnerung. M i r schnürte die Erinnerung den Atem ab.

„Und du, willst du nun immer allein bleiben?“

„Vielleicht“, sagte ich und glaubte, es genau zu wissen. „Mach dir keine Sorgen, ich werde zurechtkommen.“

Minutenlang schwieg sie. In ihrem fahlen, eingefallenen Gesicht arbeitete es, als fiele es ihr schwer, noch diese eine Frage zu stellen, die ich erwartete.

„Und habt ihr auch den Jungen schön begraben?“

„Mutter, welchen Jungen?“ Ich trieb es auf die Spitze, ihre Frage nach meinem Befinden nur als Überleitung betrachtend.

„Na, Werni, der ist doch gestorben.“

„Der ist gefallen, Mutter, schon 1945, am zweiten Mai, bei Bremervörde. Da ist er auch begraben.“

Ihre Augäpfel unter den geschlossenen Lidern bewegten sich, als denke sie nach. Plötzlich weinte sie laut auf, wie ich es nur einmal an ihr erlebt hatte: An jenem Tag in meiner frühen Kindheit, als der Briefträger nicht zum Schwatz an der Tür stehengeblieben war, mir einen Brief in die Hand gedrückt hatte und sich mit den Worten: „Gleich Mutti geben, ja?“ gesenkten Kopfes davonmachte.
Groß und mager hatte sie damals mitten im Zimmer gestanden, mit einem in der Mode der Zeit um den Kopf geschlungenen Schal, den entfalteten Brief in den Händen, immer und immer wieder ein und dasselbe Wort wiederholend: „Gefallen, gefallen, gefallen....“

Dann schrie sie, dann weinte sie, bis sie mit dumpfem Schluchzen erschöpft in einen langen Schlaf fiel.

Ich war vier und mit meinem einjährigen Bruder und den herbei geeilten Nachbarn allein. Mein Vater war irgendwo unterwegs.

Von diesem Tag an buhlte ich um ihre Liebe. Ich klebte an ihren Fersen und wartete auf Zuwendung. Oft nahm sie mich gar nicht wahr und umkreiste mich wie einen Fremdkörper. In solchen Momenten fühlte ich mich schuldig und einsam. Auch später war das so. Ihren Vorrat an nicht aufgebrauchter Liebe für ihren gefallenen Jungen übertrug sie auf ihren eigenen Jüngsten und später dann auf meine Söhne. In mir sah sie wohl immer eine Rivalin.

In dieser Nacht kam Stefan kam schon gegen zwei Uhr aus dem Nachtdienst. Sein Rücken täte ihm weh. Deshalb sei er gegangen. Auch Michael kam frühzeitig vom Geburtstag seines Freundes, ohne dort, wie ursprünglich geplant, zu übernachten. So saßen wir zu dritt an Oma Margaretes Bett und lauschten bang ihrem rasselnden Atem.

„Weckt Oma um acht und gebt ihr die Tabletten. Ich muss jetzt los, ihr wisst, heute ist Schlüsselübergabe. Ich beeile mich.“ Die beiden nickten stumm.

Endlich das Schlüsselbund für meine neue Wohnung in der Hand, warte ich nun an der Endstelle der Linie Zehn im Norden der Stadt auf die Straßenbahn. Außer mir wartet niemand.
Die Luft ist herbstmild, vom nahen See weht es kühl herüber. Nichts scheint außergewöhnlich.
Und doch erkenne ich, wohl zum ersten Mal in meinem Leben, die Zeichen einer Endlichkeit, um die ich bis dahin nur von meinem Verstand her wusste.
Aufgewühlt und bang fühle ich mich dem Unvermeidlichen ausgeliefert.

Meine Armbanduhr zeigt fünf Minuten nach halb Zwölf, als die Bahn quietschend um die Kurve biegt. Ich denke an meine Jungs. Sie warten auf mich.

Die Bahn zuckelt dahin. Fetzen von Erinnerungen an Mutters Erzählungen geistern durch mein Gehirn...

Im Mai 1906 wurde die kleine Margarete von der im Hause ein- und ausgehenden Hebamme auf die Welt gezogen und der Fürsorge von zwei älteren Schwestern und zwei älteren Brüdern überlassen. Mutter Martha erschuftete den Lebensunterhalt; Vater Andreas versoff ihn.

Sie ertrug die Saufexzesse des Vaters, der sich immer öfter den Frust aus Armut und unerfüllten Wünschen von der Seele randalierte. Und wenn Mutter Martha ihn nachts widerwillig zu sich ließ, um die Kinder nicht zu wecken, zog sich Grete die Decke über die Ohren und zitterte in einen unruhigen Schlaf hinüber.
Irgendwann nahm Grete wahr, dass zwischen Wand und Kommode neben Mutters Bett griffbereit eine Axt deponiert war.

Mit knapp acht Jahren bekochte Margarete ihre müde und matt von irgendeiner Arbeit heimkommenden älteren Brüder, die von schwerer Feldarbeit ewig hungrigen Schwestern und die immer öfter auf Hamstertour gehende Mutter.
Sie wusch die kleinen Brüder, spielte mit ihnen und klaute für sie aus dem Garten des reichen Bauunternehmers aus der Elbvilla Äpfel, Birnen und Kirschen.
Nur Abends, wenn die enge dunkle Parterrewohnung wie ein warmer weicher Mantel aus Nestwärme und Geborgenheit alle in sich aufnahm und Vater Andreas aus irgendeiner Ecke seinen Schnapsatem verbreitete, lauschte sie im Kreise der anderen beim Schein der Petroleumlampe Mutter Marthas Erinnerungen: An Kindheit und Jugend in Ostpreußen, wo sich in blauen Seen dunkle Wälder spiegeln.
Schaurig schöne Geschichten voller Mystik und Aberglauben ließen sie noch näher an Mutter heranrücken und großäugig ängstlich zu ihr aufschauen. Den Spott der größeren quittierte sie mit Kratzbürstigkeit.
Mutter Marthas Geschichten endeten immer mit dem Tag, als sie dem blonden Landarbeiter Andreas mit den frech-fröhlichen Sprüchen nach Westen in sein Bördedorf folgte.
Erst im Bett, dicht an die Mutter gekuschelt, sie abschirmend vom Vater, kehlte sie mit den anderen im Chor: „Hunger, Hunger, Hunger!“
„Ruhe“, unterbrach dann die Mutter mit Lachen in der Stimme und Tränen im Herzen: „Leckt Salz, habter ooch noch Durscht.“

Ich lächle in mich hinein. Diesen und ähnliche Sprüche kenne ich zur Genüge auch von meiner Mutter. So war auch sie: Voller Galgenhumor und Mutterwitz, alles gepaart mit einer deftigen Portion Taktlosigkeit.


Die Domuhr zeigt Viertel vor Zwölf. Nächste Haltestelle ist Hasselbachplatz. Ich muss umsteigen. Drei Autos und eine Handvoll Leute ziehen an mir vorüber wie in Zeitlupe. Die Stille ist aufdringlich und nervt. Wieder schweifen meine Gedanken ab...

Während Deutschland andere Länder zu lehren versucht, am deutschen Wesen zu genesen, übte sich die kleine Grete im Kochen von Suppe aus Wasser, Kohlrüben und einem undefinierbaren Fett. Vater Andreas nahm seinen letzten Schluck. Margarete atmete auf, verbannte die Axt aus der Lücke zwischen Kommode und Wand in den Schuppen und lernte, ruhige Nächte zu genießen.

Sie wuchs heran zu einer sommersprossigen Bohnenstange. „Zicke im Eimer!“ lästerten die Schwestern, wenn sie mit viel zu dünnen Beinen in viel zu großen Holzpantinen über den Hof klapperte.
„Allesfresser, verflixte!“ wehrte sie sich und versteckte Brot und anderes Essbare aus den Hamstertouren von Mutter Martha vor den ewig hungrigen großen Mädchen und gab es den kleinen Brüdern.

1918 spuckte der Krieg den ältesten wieder aus, äußerlich unbeschadet. Die kleine Margarete hatte ihren Beschützer wieder. Auch der zweitälteste kehrte heim, behaftet mit der Franzosenkrankheit. Margarete litt mit ihm bis zu seinem frühen Tod.

Als letztes der Mädchen noch zu Hause pflegte sie die herzkranke Mutter, bemutterte die jüngeren Brüder und wandelte sich langsam zu einer - wie sie sich später selbst bezeichnete - „Jungsmutter“.
Sie hütete die Bengels wie eine Glucke ihre Küken, verzieh ihnen alles, verzichtete auf alles, sang sie in den Schlaf, verteilte Kopfnüsse, tröstete sie danach und empfand ihre Schwestern als Rivalinnen.

Plötzlich ist mir, als entferne ich mich immer weiter von meinem Ziel, wie in jenen Träumen, in denen man sich auf eine Reise begibt und nie oder an einem falschen Ort ankommt und keiner einen erwartet. Alles scheint stillzustehen. In mir ist Leere, als hätte ich nie Freude oder Trauer, Verzweiflung oder Hoffnung gefühlt.
Mein Blick fällt auf die Uhr zwischen den sich kreuzenden Gleisen: Es ist genau Zwölf.
Und wieder steigen neue Bilder in mir auf.

In den bitteren Jahren der Inflation verliebte sich Grete in einen zornigen, intelligenten jungen Mann und kettete ihn an sich mit der Geburt ihres Sohnes Werner im Jahre 1927. Geheiratet wurde nicht, denn das Gesetz bestrafte junge Eheleute, indem es nur einem gestattete zu arbeiten.
So pfiffen sie auf die Moral und ertrugen den Vormund für den Sohn. Gretes Arbeit bei Fahlberg-List an einer Phosphormischanlage wurde jäh unterbrochen, als d i e im April 1931 wegen mangelnder Sicherheitsvorkehrungen explodierte. Grete überlebte als einzige. Zehn junge Frauen starben. Im gleichen Jahr heiratete sie den Vater ihres Sohnes, der auch mein Vater war.
 
Die bereits vor mir stehende Straßenbahn ruft mich in die Gegenwart zurück. Ich steige ein. Es ist Viertel nach Zwölf.
An der offenen Tür lasse ich mir den Fahrtwind ins Gesicht wehen.

Als die Straßenbahn um halb Eins endlich da wieder hält, wo ich vor etwa fünf Stunden abgefahren war, umklammert meine Hand noch immer das Schlüsselbund.

Und wieder bedrängt mich ein Gefühl aus einem meiner Alpträume: Eine nicht greifbare Gefahr baut sich vor mir auf. Ich möchte umkehren, doch eine unsichtbare Kraft zieht mich direkt in das Zentrum dieser Gefahr hinein.
Mühsam setze ich einen Fuß vor den anderen. Kein Mensch ist zu sehen. Ich bewege mich in einem Vakuum.
Vor der Wohnungstür angekommen stehe ich wie gelähmt, unfähig, sie zu öffnen. Von drinnen kommt kein Laut. Durch meinen offenen Mund entweicht mein Herzschlag.

Blass, eine neue Erfahrung in den ratlosen Augen, steht mir plötzlich Michael, mein Jüngster, gegenüber: „Oma...“
„Wann?“

„Um Zwölf.“

„Ja“, sage ich und wiederhole bestätigend mit trockener Stimme: „Ja.“ 

Stefan ist ganz blass und sagt gar nichts.

In Stefan sah meine Mutter noch einmal den Sohn, den der Krieg ihr genommen hatte. Ich hatte es nicht leicht mit ihr und ihm.

Erst die Zeit hat mich gelehrt zu verstehen, und sie lehrt es mich noch immer.





Herbstouvertüre
 
Nachdem ich Ehe und Scheidung hinter mich gebracht hatte und glaubte, den ständigen Kampf um Selbstvertrauen und Würde zu meinen Gunsten entschieden zu haben, zählte ich mich zu den gebrannten Kindern und gefiel mir in dieser Rolle. Beruflich stand ich wieder auf relativ festem Boden, privat - fernab von Gut und Böse. Ich war Mitte Vierzig, ziemlich gesund und noch immer attraktiv.
Ich sagte mir: Was du nicht besitzt, Sabine Andres, kannst du nicht verlieren, was du nicht verlieren kannst, brauchst du nicht zu vermissen und nicht zu beweinen.
Die Kinder gingen aus dem Haus, und ich war mit meiner Weisheit ganz allein.
Nun, da der Sommer sich anschickte, dem Herbst das Feld zu räumen, kreuzte Volker Bertram meinen Weg und blieb stehen. Der redete wenig, und wenn er redete, tat er es leise und überzeugend, oft mit hintergründigem Witz und Humor.
Wir gefielen einander.
Und doch ängstigte mich die Entschiedenheit, mit der er Zugang zu meinen Gefühlen suchte. Als wir uns einen Monat kannten, lud Volker mich zu sich in seine Wohnung ein, zu einem Zeitpunkt, als ich gerade erst begonnen hatte, eine nähere Beziehung zu ihm zu erwägen. Ich fühlte mich vor die Wahl zwischen Unabhängigkeit und Kompromissbereitschaft gestellt. Für ein Abenteuer war ich  mir zu schade.
Ich sagte: „Vielleicht“ und suggerierte ihm durch mein Lächeln ein „Ja“.
Es war Samstag, 17 Uhr. Sicherlich wartete Volker bereits. Meine kleine Zweizimmerwohnung war übersät von diversen Blusen, Röcken, Kleidern, Hosen. Ich hatte sie für alle Fälle herausgelegt, um mich vielleicht irgendwann doch noch für meinen Besuch bei ihm herzurichten.
Draußen zauste Septemberwind die Kastanienbäume und trieb dicke Regentropfen an die Fensterscheiben. „Bei diesem Wetter jagt man keinen Hund raus“, rechtfertigte ich meine Unentschlossenheit und unterdrückte mein schlechtes Gewissen, indem ich einer drittklassigen TV-Produktion mehr Aufmerksamkeit schenkte als gewöhnlich.
Ich goss die Blumen, obwohl sie erst gestern Wasser bekommen hatten, wischte Staub, wo keiner war, und wurde erst nach etwa einer Stunde ruhiger, als Volker die erste Enttäuschung schon hinter sich haben mußte.
Da klingelte das Telefon.
„Was soll ich tun? Ich habe nur ‘vielleicht’ gesagt...“
Schon wieder klingelte es. „Ja, bitte?“ Ruhe am anderen Ende, aber auch kein Piepton. „Hallo!“ Es knackte, und dann - das Freizeichen.
Ich ließ den Hörer langsam auf die Gabel zurücksinken und haderte mit dem Gedanken, ein ehrliches Angebot unehrlich beantwortet zu haben.
Müde von der schlaflosen letzten Nacht hatte ich nun das Bedürfnis nach frischer Luft und klarem Kopf.
Bereits im Mantel und die Handtasche unter dem Arm wurde ich durch das erneute Klingeln des Telefons noch einmal zurückgerufen. Feige zog ich die ausgestreckte Hand gleich wieder zurück und ließ es noch einmal läuten.
Ich wusste: Jetzt war eine Entscheidung fällig. Mit Herzklopfen und flauem Gefühl im Magen nahm ich den Hörer und - war erleichtert. Es war  n u r  meine Freundin Christa! Ich lehnte ihr Angebot, meinen Urlaub mit ihr zu verbringen, ab, legte auf und stellte fest: Ich war enttäuscht.
„Ganz bestimmt war  e r  es. Sollte wohl ein  kleiner Denkanstoß sein, dieser wortlose Anruf.“
Ich machte mich zu Fuß auf den Weg. Die dicken Tropfen hatten sich in einen alles durchdringenden Nieselregen verwandelt. Unter meinem Schirm schlug ich mich mit der Frage herum: „Was willst du wirklich?“ Das fragte ich mich noch, als ich mich inmitten der vielen neuen Bauten im Umkreis des Hauptbahnhofs wiederfand. Zerstreut betrachtete ich sie, in meinem Rücken ständig einen imaginären Beobachter wähnend.
Durchnässt und missgestimmt flüchtete ich ins Foyer des unlängst eröffneten ‘Cinemaxx’ und geriet in den Sog Kinokarten kaufender Menschen. Bald lehnte ich in einem Polster vor einer überdimensionalen Leinwand, von der mir in bizarren Buchstaben ein Filmtitel entgegenprangte: ‘Titanic’.
Eine merkwürdige Stimmung übermannte mich. Ich fühlte mich umfangen von der Aura einer Situation, die es nie wirklich gegeben hatte. Und doch schien es mir, als hätte ich genau diese schon einmal erlebt.
„Deja-vú“, fiel mir ein, und ich empfand Sehnsucht, Spannung, Erwartung und neugierige Furcht wie vor dem allerersten Alleinsein mit dem Geliebten.
Tausend Jahre musste das her sein.
Einen Lidschlag lang fühlte ich Volker neben mir und war verwirrt.
Ich litt mit den Passagieren der ‘Titanic' und vergoss Tränen über deren Schicksal wie ein Teenager mit Weltschmerz. Von Wimperntusche schwarze Rinnsale liefen mir übers Gesicht und meinen hellen Trenchcoat.
Alle Begegnungen mit Volker kamen mir in den Sinn, besonders die letzte. Da hatte er mir von Melitta, seiner Ex-Frau, erzählt, die ihn und sein ‘norddeutsch-verhaltenes Naturell’ gegen einen mit ‘bayerisch-forschem Charme’ eingetauscht hatte.
So hatte er sich ausgedrückt. Auch hatte er gesagt, dass ich es war, die ihn ‘klug und taktvoll’ dahin gebracht hat, seinen ‘seit langem verdrängten Anspruch wieder neu zu entdecken’. Ich mochte die leicht ironische Art, mit der er über sich selbst sprach.
Der Film war sehr lang, und ich wurde ungeduldig auf meinem Sitz. Irgendetwas musste geschehen. Dass dieses Irgendetwas noch an jenem Abend und mit der von mir immer wieder abgewendeten Konsequenz geschehen sollte, wusste ich in diesem Moment noch nicht.
Ich kürzte meinen Heimweg durch die Bahnhofstraße ab und beschleunigte in Höhe ‘Schwarzer Adler’ meine Schritte. „Nur vorbei hier“, war mein Gedanke.
Mein Blick blieb am Nummernschild eines im Licht einer Straßenlaterne geparkten Audis hängen. In keiner Minute jenes Abends war ich so wach gewesen wie in diesem Augenblick. Es war  s e i n  Auto.
Ich befürchtete, in dieser Straße noch weitere Lokale vom Typ ‘Schwarzer Adler’ zu entdecken - oder schlimmer - und suchte mit den Augen, konnte aber nichts Verdächtiges finden. Ich wagte mich an die erleuchteten Fenster des Lokals heran, in der Annahme, da drinnen Volker zu erblicken. Durch die Vorhänge konnte ich jedoch nur Schemenhaftes wahrnehmen.
Mein Spürsinn war geweckt. In der Toreinfahrt schräg gegenüber verbarg ich meine frisch aufgedunkelte Kurzhaarfrisur unter meinem Seidentuch und schlug den Mantelkragen hoch. „Nun fehlt nur noch die dunkle Brille“, dachte ich und fand mich ziemlich lächerlich.
Schon von der Lokaltür aus sah ich ihn, sitzend vor einem halb ausgetrunkenen Glas Bier und einem leeren Kognakschwenker. Eine Blondine beugte sich lachend über seinen Tisch zu ihm hinüber.
„Aha, so einfach ist das“, dachte ich und zischte: „Dumme Gans“, gleichermaßen die Blonde wie auch mich selbst meinend.
Ich drückte mich wieder in meine Toreinfahrt. „Und wenn ich bis morgen früh hier stehen soll. D i e  hat er nun wirklich nicht verdient.“
Dieser Gedanke beherrschte mich, bis nach nicht allzu langer Zeit - es hatte inzwischen aufgehört zu regnen - Volker in der Tür erschien. Er war allein.
Es hämmerte in meiner Brust.
Gespannt verfolgte ich, wie er, den Schlüssel in der Hand schwenkend, auf sein Gefährt zuging. Auf einmal blieb er stehen, den leicht gesenkten Kopf halb in meine Richtung wendend. Mein erster Gedanke war: „Jetzt hat er dich entdeckt.“
Doch dann wandte er sich ab und steckte seinen Schlüssel in die Hosentasche.
Ich bewegte mich nicht von der Stelle und sah ihm nach, wie er, gemächlich schlendernd, sich immer weiter weg von meinem Beobachtungsposten und dem ‘Schwarzen Adler’ entfernte.
„D a s, Volker Bertram, hätte ich dir nicht verziehen.“
Das lästige Gefühl der Enge zwischen Herz und Magen war gewichen. Ich konnte wieder durchatmen. Am liebsten hätte ich die Zeit noch einmal um sechs Stunden zurückgedreht und das getan, was ich in meinem tiefsten Innern schon lange wollte und immer wieder geleugnet hatte.
Mir war zumute, als würde ich ihn verlieren und lief ihm nach.
„Jetzt mußt du Farbe bekennen, Sabine. Jetzt oder nie. Noch einmal wird er nicht mit sich spielen lassen.“ Noch einige Zeit hielt ich Abstand, ohne ihn aus meinem Blickfeld zu lassen und fand mich damit ab, dass Volker mein nächtliches Auftauchen als Kapitulation ansehen mußte.
Und ich wollte kapitulieren. Endlich, nach Jahren.
„Volker!“ rief ich. „Warte!“
Er verhielt kurz den Schritt, ging dann aber langsam, ohne den Kopf zu wenden, weiter.
 „Volker!“ Ich befürchtete, den Bogen überspannt zu haben und hatte Angst vor einer Abfuhr.
Doch vor einem Schaufenster blieb er stehen; zögernd drehte er sich nach mir um.
Zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, suchte ich nach Worten, während er mich ernst und fragend ansah.
Noch einmal regte sich Widerstand in mir, hatte ich doch so etwas wie Triumph in seinen Augen entdeckt.
Ich machte eine hilflose Handbewegung und fand mich töricht und unbedeutend.
Schließlich gelang es mir doch noch, gespielt leicht hervorzubringen: „Ich habe einen Führerschein, sogar bei mir.“
Jetzt lächelten Volkers Augen, in seinem Gesicht arbeitete es. Da wünschte ich mir, ganz nahe bei ihm zu sein.
Ich hatte aufgegeben.
„Wo kommst du denn her?“ Seine Stimme war sanft.
„Ich war im Kino, und du? Wo warst du?“
„Zuerst habe ich zu Hause auf dich gewartet und dann - habe ich dich gesucht.“
„D a  drinnen?“ fragte ich ihn leise, mit einer Kopfbewegung hinter mich weisend. Ich suchte seine Hand. Er drückte  m e i n e  Hand so, dass es weh tat und sagte eine Weile gar nichts. Dann sah er mich an, als vereinnahme er mich mit Haut und Haaren.
„D a  hätte ich  d i c h  wohl nie gefunden.“
„Komm, Volker, ich fahr’ dich nach Hause.“
„Und wer bringt dich nach Hause, Sabine?“
„Du, morgen, wenn du wieder ganz nüchtern bist.“
Er nahm mich in den Arm...
Gemeinsam gingen wir zurück zum Auto.

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Die balinesische Brille

Nichts weniger als eine zerkratzte Brille hätte mich jemals dazu bewogen, auch nur einen Gedanken über sie niederzuschreiben, wäre nicht durch puren Zufall eben solch einer Brille eine ganz besondere Bedeutung verliehen worden. Ihre Geschichte gehört zu den unwahrscheinlichen, und doch ist sie passiert.
Seit unserem gemeinsamen Urlaub auf Bali hatte ich Irene seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen. Sie war zu Geert, ihrer Urlaubsbekanntschaft, nach Amsterdam gezogen, während ich mich in Deutschland auf mein Psychologieexamen vorbereitete und jegliche Gedanken an einen ausgedehnten Urlaub erst einmal auf Eis gelegt hatte. Dann folgte ich einer Einladung nach Holland, wo Irene und Geert bereits eine Familie gegründet hatten.
„Kirsten, spute dich, sonst wirst du eine alte Jungfer“, orakelte Geert ‘feinfühlig’ in seinem Rudi-Carell-Akzent.
Keiner von uns ahnte zu diesem Zeitpunkt, wie schnell sich alles ändern sollte.
Wir schauten uns Dias aus unserem letzten gemeinsamen Urlaub an und auch ein Video, das bei Geerts erstem Bali-Besuch vor drei Jahren entstanden war. Damals befand er sich auf den Spuren seines Urgroßvaters, der kurz nach der Jahrhundertwende eine balinesische Schönheit, Geerts Urgroßmutter, mit nach Holland  gebracht hatte.
Noch einmal erlebe ich die Insel der Tempel, Götter und Dämonen in lebendigen Bildern. Unter Palmen am weißen Strand von Kuta spüre ich den sanft kühlenden, von Australien her wehende Ostmonsun. Wieder bezaubert mich die märchenhafte Kulisse des von der Brandung umspülten Tempels Tanah Lot vor rotglühendem Abendhimmel. Ich ahne die Feuchte der sattgrünen, dampfenden Landschaft nach kurzem, heftigem Tropengewitter und überlasse mich der Faszination des Geheimnisvollen bei den uralten Tanzzeremonien der Balinesen.
Und immer geistert durch die Bilder ein großer Blonder mit Brille, lacht in die Kamera und strahlt Unwiderstehlichkeit aus.
Im Wald von Sangeh amüsiert er sich inmitten einer Gruppe junger Leute mit drei aufdringlichen Affen. Er verteilt Bananen und kann sich kaum des einen erwehren, der auf seinem Rücken hockt und ihm von hinten über die Schulter die Bananen aus der Hand grapscht. Das Spiel endet damit, dass ihm der Affe die Brille von der Nase reißt und mit ihr in einer Baumkrone verschwindet.
Als Geert danach lachend erzählte, wie der kurzsichtige Steffen unter dem Verlust seiner Brille noch leiden musste, kam mir der Gedanke, daß Brillenklau in diesem Wald sicherlich nichts Außergewöhnliches sein dürfte. Hatte ich doch genau in diesem Wald vor weniger als einem Jahr zwischen Wurzeln und feuchtbemoosten Steinen eine total zerkratzte, von einer Kruste aus Erde und Moos bedeckte Brille gefunden und sie eingesteckt, einfach so. Irgendwo bei mir zu Hause musste sie noch herumliegen.
Weswegen ich mich plötzlich für die Adresse des blonden Steffen interessierte, begründete ich damit, dass auch er Psychologe war und mir in meiner Vorbereitung aufs Examen nützlich sein könnte.
„Vorsicht! Steffen ist bestimmt schon unter der Haube.“ Geerts pechschwarze Augen blitzten spöttisch. Irene lächelte wissend.
Geerts Bemerkung ignorierend fasste ich einen Entschluß.
Wieder zu Hause, gönnte ich mir noch einige freie Tage und begab mich nach Köln, Steffen Grüße von Geert aus Amsterdam zu überbringen, auf der ‘Durchreise’ sozusagen. Ich hatte Glück und traf ihn zu Hause an. Steffen König fixierte mich unbebrillt aus freundlich-erstaunten kurzsichtigen Augen.
„Von Geert? Mein Gott, wie lange ist das schon wieder her! Kommen Sie ‘rein. Oder darf ich du sagen? Wie, sagtest du, heißt du?“
 „Kirsten. Kirsten Bley.“ 
Er räumte Bücher und Klamotten von einem Sessel. „Setzt dich, Kirsten und entschuldige einen Moment, meine Brille hat sich wieder mal verselbständigt.“
Mein Auftritt war schneller gekommen, als ich gedacht hatte. „Falls du sie nicht findest, ich kann dir helfen.“ Ich beförderte aus der Tiefe meiner Reisetasche die zerkratzte balinesische Seehilfe mit den verbogenen Bügeln zutage und hielt sie Steffen unter die Nase.
Er lachte: „Sinn für Humor hast du. Das muß man dir lassen. Woher hast du dieses Unikum?“ Er drehte die Brille in seiner Hand hin und her. „Hm, seltsam.“
„Was ist seltsam?“  Ich platzte fast vor Spannung.
„Weißt du, sie erinnert mich an meine erste Brille. Sag’ jetzt nicht, davon gibt es Tausende. Diese hier hat eine Lötstelle, genau wie die, die ich verloren habe. Ich musste sie ständig reparieren. Geld für eine neue hatte ich damals nicht. Du wirst es mir nicht glauben, Kirsten.
D i e  Brille, von der ich rede, hat mir ein Affe geklaut.“
„Ich hab es gewusst.“
„Was hast du gewusst?“
„Dass sie Dir ein Affe geklaut hat.“
Steffen sah mich an, als zweifle er an meinem Verstand.
„Ja, Steffen, ein Affe. Auf Bali, im Affenwald von Sangeh.“
Seit jenem Abend, der noch sehr lang wurde, sind Steffen und ich unzertrennlich.
Heute hat er bereits seine vierte Brille. Die zerkratzte liegt gut sichtbar in seinem Bücherschrank und löst in ihrer Schäbigkeit bei Uneingeweihten Befremden oder Neugierde aus, bei denen jedoch, die ihre Geschichte kennen - immer wieder aufs Neue die Erkenntnis: Wunder sind nahezu unmöglich, aber manchmal geschieht eines.


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Jetzt oder nie ...


15 Jahre lang hat der überzeugte Junggeselle Michael Kluge in einem mittelständischen Bauunternehmen hervorragende Arbeit geleistet.
An einem Donnerstag im November - seinem 40. Geburtstag -  wird er dafür belohnt: Sein Chef macht ihm das unerwartete Angebot, eine Position mit größerem Verantwortungsbereich zu übernehmen.
Kluge schämt sich, weder Freude noch Überraschung zeigen zu können, was sein Chef jedoch wohlwollend als Bescheidenheit deutet und ihm freundlich, doch erstaunt die bis Montag erbetene Bedenkzeit gewährt.
Mit der Beförderung ist Kluges seit Jahren gewachsenem Bedürfnis, dem Moloch täglicher Pflichterfüllung und Verantwortung zu entfliehen, auszusteigen, die Firma Firma sein zu lassen, mit einem Male der Boden entzogen worden.
Der Gedanke, vor seiner Firma als Verräter dazustehen, ist ihm so unerträglich, daß sein Wunsch nach Freiheit, wie er sie versteht, in weite Ferne gerückt scheint.Zurück an seinem PC vertieft er sich sofort in seine begonnene Arbeit, während die Kollegen einen jungen ‘dynamischen’ Mitarbeiter die Regeln der Hierarchie lehren.
„Offenbar wissen die noch nicht, dass  d e r  hier künftig das Sagen haben soll“.
Kluge verachtet sich für seine Feigheit, den Kollegen klaren Wein einzuschenken, auch für die Erkenntnis, niemanden zu brauchen, nicht die Firma, nicht die Kollegen, aber selbst gebraucht zu werden.
Zum Feierabend verabschiedet er sich wie immer seit 15 Jahren mit einem ‘Tschüs’, um wie immer zur gleichen Zeit mit dem Linienbus nach Hause zu fahren
Auf seinem Weg zur Bushaltestelle hadert er im nasskalten Novembergrau mit der Alternative: Jetzt oder nie!
„Kalt heute, Gott sei Dank wird es immer wieder Sommer“, begrüßt Busfahrer Willy Nickmann Michael Kluge.
„Hm, und das jahraus, jahrein“, entgegnet Kluge, seine Flapsigkeit sofort bedauernd, indem er Nickmann im Vorbeigehen die Hand auf die Schulter legt.
Dann verkriecht er sich hinter seiner Zeitung, liest aber nicht. Über den Zeitungsrand hinweg heftet er seinen Blick auf Nickmanns in 15 Jahren ergrauten Kopf  und glaubt genau zu wissen, was er nicht will.
Dann erzählt Nickmann, er gehe in Rente und orakelt scherzend: „Kluge, Sie werden bis zu Ihrer Rente noch mindestens drei Fahrer erleben.“
Kluge schweigt. Seine Gedanken schweifen ab in die Geschehnisse der letzten 15 Jahre und in den Nebel der vor ihm liegenden; sie kehren zurück in die Gegenwart und bleiben hängen an seinem Bankkonto, das in 15 Jahren dank der Anspruchslosigkeit seines Inhabers an materielle Dinge auf eine ansehnliche Summe angewachsen ist.
„Apropos erleben ...“, sagt er dann nach längerem Schweigen kaum hörbar zu sich selbst und hat wie so oft in letzter Zeit das Gefühl, von einem leeren Bahnsteig aus einem verpassten Zug hinterherzusehen.
Zu Hause fügt Kluge nach langem Nachdenken den seit 15 Jahren sich wiederholenden Verrichtungen eine weitere hinzu: Er schreibt seine Kündigung.
Als er dann beim nochmaligen Durchlesen die Tragweite des Geschriebenen erkennt, ist er froh, zwischen heute und Montag noch den Freitag, den Samstag und den Sonntag zu wissen.

 

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Es ist nie zu spät

Bis in die Nacht hinein hatte ich an einer wichtigen Arbeit gesessen. Nun stand ich unausgeschlafen auf dem zur Gartenseite des Hauses gerichteten Balkon meiner kleinen Einliegerwohnung und atmete tief die kühle, nach Erde duftende Maienluft. Die ersten Vögel begannen zu zwitschern. Im frisch vertikutierten Rasen glitzerte der Tau in rötlichem Morgenlicht. Die Fenster unter mir, gewöhnlich schon in aller Herrgottsfrühe weit geöffnet, waren offenbar noch verschlossen. Sonst hätte ich die lauten Stimmen der Haberlands schon längst vernommen.
Hermann und Erna Haberland waren vor drei Jahren fast gleichzeitig in den Ruhestand eingetreten, hatten viel Geld und Arbeit in ihr Haus investiert und mir die Wohnung über der ihren zu einem moderaten Mietpreis überlassen.
Herr Haberland, der ´junge Frau´ zu mir sagte, die ich längst nicht mehr war, pflegte regelmäßig und mit Inbrunst seinen Rasen. Sonst ließ er sich von seiner Frau Erna nach Strich und Faden verwöhnen, weswegen ich ihn in meinem Innern ‘Pascha’ nannte.
Wie in jedem Jahr hatten die beiden die Sonnentage ab Anfang Mai genutzt und ihre Liegestühle in den Schatten einer von Rhododendronbüschen und Rosenstöcken umgebenen Birke platziert, direkt unter meinen Balkon. Einfach nur liegen, schlafen, lesen, Kaffee trinken und reden war bei schönem Wetter ihre Lieblingsbeschäftigung. Sie redeten laut miteinander, denn  s i e  hörte nicht gut, und  e r  wiederholte sich nicht gern. Dabei hielten sie Händchen. Das heißt, sie hielt seines, und er ließ es geschehen. Und so war das immer gegangen, bis in den Herbst hinein.

Heute war alles anders. Erst gegen 11 Uhr öffnete Frau Haberland alle Fenster und zog sich schnell wieder zurück, ohne wie sonst einen freundlichen Gruß zu mir hinaufzuschicken und mich mit ein paar verbindlichen Worten für kurze Zeit von meiner Arbeit unterm Sonnenschirm abzulenken. Nach etwa zwei Wochen, als Gras und Unkraut im Garten struppige Akzente gesetzt hatten, tauchte Frau Haberland
wieder auf. Sie warf einen prüfenden Blick auf Rasen und Pflanzen und verschwand, mit gekränkter Miene, Entschlossenheit im Gesicht.
Ich ahnte, daß ‘Pascha’ Haberland keine leichten Zeiten bevorstehen würden.
Als der einen Tag später erschien, verbiss er sich dann auch, ohne hochzugucken, in seine Arbeit, beschnitt und rupfte, grub um und zupfte, bis der Garten in neuem Glanz erstrahlte. Auch Herr Haberland selbst veränderte sich. Quasi über Nacht war ihm auf seiner Glatze ein verwegener Haarschopf gewachsen. Auch wich mit jedem Tag mehr sein konservativer Bürolook einem farbenfrohen Freizeitoutfit. Bald zierte den Platz vor der Haustür nicht mehr sein alter Ford, sondern ein neuer BMW.

Eines Tages stellte er wieder zwei Liegestühle auf den Rasen - zwei neue - allerdings an eine Stelle, die ich von meinem Balkon aus nicht so gut einsehen konnte. Trotzdem entging mir nicht: Neu war auch die Frau an seiner Seite, und jung, viel jünger als seine Erna, selbst jünger als ich.
„Seine ehemalige Sekretärin“, munkelte man.
Erna Haberland trug jetzt oft eine dunkle Brille.
Mitte Juli jedoch okkupierte sie plötzlich das gemeinsame Grundstück mit einer Schar Freundinnen zum Kaffeekränzchen, das sie regelmäßig wiederholte. Zwar hatte ihr Mann eine Pergola gegen unliebsame Blicke aufgestellt, aber gegen das fröhliche, zuweilen hämische Gelächter am anderen Ende des Gartens schützte  d i e  nicht.
Als die Astern blühten, letzte Rosen auf langen Stengeln welkten und gelbe Blätter von der Birke taumelten, erlitt Herr Haberland einen Herzinfarkt und überlebte. Seine Frau kümmerte sich und weinte, seine Freundin hingegen ‘ward nicht mehr gesehen’.
Den Winter über blieb mir das Leben der Haberlands verschlossen. Mit dem Frühling jedoch kamen die Haberlands in ihren Garten zurück, sie - in neuem Outfit und gestylter Frisur, er -  im Hausanzug und wieder mit Glatze.
Sie begleitete ihren Pascha bis zum Liegestuhl unter der Birke, legte ihm eine Decke über die Knie, drückte ihm ein Buch in die Hand und verschwand wieder ins Haus.

„Erna!“
„Was ist denn? Und brüll’ nicht so. Ich trage mein Hörgerät jetzt ständig.“
„Komm raus. Nimm den Liegestuhl!“
„Du weißt doch, ich habe heute meinen Seniorenclub. Ich muß mich beeilen.“
„Jeden Tag was anderes. Und morgen, was ist morgen wieder?“
„Morgen? Morgen ist Mittwoch. Und am Nachmittag ist Vorlesung in der Uni zum Thema: ‘Krisenbewältigung im Alter’. Ist sicher interessant.“
„Blödsinn.“
„Sagtest du etwas, Hermann?“
„Schon gut. Der Schulze oder Müller, oder wie der heißt? Ist der auch wieder dabei?“
„Hahaha,  M e y e r, Vater,  M e y e r. Ja, der ist auch da.“
„Meinst du nicht auch, dass du zu alt bist für solche Eskapaden?“
„Es ist nie zu spät, Haberland. D u  hast es mir doch vorgemacht. Nun bin  i c h dran. Hast du gehört?“
„ - - -“.
„Hermann, du sagst ja gar nichts. Wenn es dir wieder besser geht, und, wenn du willst, kannst du ja mal mitkommen, oder auch  j e d e s m a l. Willst du?“
„Was bleibt mir denn anderes übrig?“
„Richtig.“
Es war mein letzter Sommer im Hause der Haberlands - auch der letzte Sommer von Hermann Haberland. Als der Garten unter einer dicken Schneedecke lag, hatte ihn an einem Sonntagmorgen die laute Stimme seiner Erna nicht mehr erreicht.

Im Herbst darauf - ich war inzwischen in eine andere Stadt gezogen - erfuhr ich, daß Erna Haberland zu ihren Kindern in den Süden gezogen war.
Ich denke sehr oft an die beiden. Seit der Trennung von ihnen ist der noch vor mir liegende Weg sehr überschaubar geworden.

 

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Das Haus auf dem Hügel
 

Gerade ging die Sonne unter, als ich bemerkte, dass ich mich auf der Suche nach einer Abkürzung in einen breiten, mir nicht unbekannten Waldweg verirrt hatte. Nach wenigen Minuten lichtete sich vor mir der Wald und gab den Blick auf einen Hügel frei, auf dessen höchstem Punkt sich die Silhouette eines Hauses gegen den Abendhimmel abhob.
Ich wusste sofort: Dieses Haus sah ich nicht zum ersten Mal.
Ich ordnete die Eindrücke, die, je länger ich hier verweilte, sich immer mehr zu einem Ganzen fügten: Die Realität von Hügel, Haus und Landschaft verschmolz mit einem Bild aus verdrängten Erinnerungen.
Es war vor 15 Jahren im April. Unser alter VW hatte nach einer lustlosen Wochenendspritztour auf diesem Waldweg seinen Geist aufgegeben.
Wie heute hing auch damals ein bleicher Mond über der Landschaft und tauchte sie in  diffuses Licht.
Klaus Weiding, mein Ex-Ehemann, hatte sich zu jenem Haus auf jenem Hügel aufgemacht, um den Abschleppdienst anzurufen.
Ich hatte damals lange gewartet und dabei sicherlich auch an die vielen Abende gedacht, die wir wortlos vor dem Fernseher verbrachten und er seit langem nur noch misslaunig meine Zuwendung quittierte.
Nachdem Klaus zurückgekommen war, verschloss er sich völlig vor mir.
Der Wagen wurde abgeschleppt und verschrottet. Ich trennte mich von Klaus und nahm meinen Mädchennamen wieder an.
Das Haus auf dem Hügel jedoch nistete sich als Symbol für alle Tiefpunkte meines Lebens in meinem Kopf ein.
Schon mit einem Bein aus der Tür taste ich nach der Taschenlampe und steige aus. Ich hatte plötzlich das starke Bedürfnis, das Geheimnis dieses Hauses zu lüften.  Den Kopf  tief in den Kragen gezogen, stolpere vorwärts, fröstelnd fliehend vor den Geräuschen des Waldes hinter mir.
Ehe ich’s mich versehe, stehe ich vor dem Haus. Durch die Fenstervorhänge dringt Helligkeit. Unter der Fassadenbeleuchtung erkenne ich eine Garage und einen Garten.
Ich klingele. Sekunden später steht mir im Licht der offenen Tür eine Frau gegenüber.
„Guten Abend, entschuldigen Sie, ich habe mich verfahren“, lüge ich.
„Guten Abend. Das passiert fast jedem, der einmal hier heraufkommt. Kommen Sie doch herein.“
Ihre gelassene Heiterkeit gibt mir das Gefühl, als habe ich ihr durch mein Erscheinen für irgend etwas eine Bestätigung gegeben.
Durch die geräumige Diele mit den funktionalen, doch Behaglichkeit ausstrahlenden Möbeln folge ich der Frau - sie muß in meinem Alter sein - über die Treppenstufen nach oben und wundere mich über den Treppenlift.
„Ich mache uns einen Kaffee. Ihnen ist sicherlich kalt. Sie trinken doch eine Tasse mit mir?“
Ohne meine Antwort abzuwarten, huscht sie in die Küche.
Inzwischen sehe ich mich um. Das aufgeklappte Klavier und die Galerie eingerahmter Fotos an der Wand zwischen zwei Bücherregalen relativieren den Eindruck von gepflegter Sachlichkeit.
Ich trete näher heran und erkenne auf einem  der Fotos  s i e  in jungen Jahren mit einem Mann: Mit meinem Mann, meinem Ex-Ehemann Klaus Weiding.
„Das ist Klaus. Wir waren damals verlobt.“
Ich fahre herum und blicke in ein blasses, ebenmäßiges Gesicht, aus dem mich große Augen voller nachsichtiger Neugierde betrachten.
„Wo ist er jetzt?“ höre ich mich fragen, als stünde ich weit weg neben mir.
 „Ich weiß es nicht. Ich heiße übrigens Regina.“
„Ursula.“
Während Regina Kaffee einschenkt, würge ich an der Erkenntnis, die mir wie ein Stein die Verbindung zwischen Bauch und Kopf blockiert: S i e  war es also, die ihn für mich unerreichbar gemacht hat.
Ich erfahre von ihrer Trennung von Klaus Weiding vor 20 Jahren, als sie sich sicher war, ein Kind zu erwarten. Anlass war sein Plan, in Amerika Medizin zu studieren, Grund - seine Entscheidung aus endlosen Diskussionen, niemals Kinder haben zu wollen. Sie hatte geschwiegen, wissend, er würde bleiben, wenn sie es ihm offenbarte. Er ging und verstand die Welt nicht mehr, und tröstete sich vor dem Absprung über den großen Teich mit mir. Und ich war es dann letztlich, die sein Weggehen vereitelte, indem  i c h  ihm  m e i n e  Schwangerschaft  n i c h t  vorenthielt. Er blieb und heiratete mich. Dann verlor ich unser Kind.
 „Und sie haben nie wieder etwas von ihm gehört?“ presse ich heraus.
„Doch, einmal, vor etwa fünfzehn Jahren. Eines Abends stand er vor der Tür. Nie vergesse ich sein Gesicht. Mit mir hatte er nicht gerechnet.“ Sie hält inne, schüttelt lächelnd den Kopf: „Und ich hatte geglaubt, er hätte mich gesucht. - Dann sah er das Kind, meinen - unseren - Sohn. Er lag in seiner Spielecke zwischen seinen Kuscheltieren - fünf war er damals - und sah zu uns herüber aus stumpfen Augen, den kleinen Körper schrecklich verdreht. Wissen sie, Thomas ist seit seiner Geburt geistig und körperlich behindert.“
Regina begegnet meinem fragenden Blick: „Er schläft nebenan. Tagsüber, wenn ich viel Zeit an meinem PC verbringe, betreut ihn außer mir noch eine Pflegerin. Oft ist auch meine Mutter bei uns. Der Lift ist für ihn, auch der Rollstuhl neben seinem Bett.“
Ich sehe ihr stumm ins Gesicht. Sie erwidert meinen Blick und nickt: „Ja, Klaus hat gefragt. Wie alt er ist, wollte er wissen. Ich habe es ihm gesagt.“
Das jäh in mir aufgekommene Gefühl von Eifersucht schwindet. Ich muß weinen.
„D a s  tue ich schon lange nicht mehr. Mein Thomas will immer nur ein lachendes Gesicht. Und ich zeige es ihm, inzwischen schon nicht mehr gespielt. Er braucht mich, und ich - ihn.“
Mitternacht ist längst vorüber, als sie, wohl empfindend, dass ich ihr noch etwas schuldig sei, sagt: „Eigentlich könnten wir unser Gespräch auf morgen verschieben. Bitte bleiben sie doch bei uns, wenn sie niemand erwartet. Ich lade sie ein. Selten hat mir jemand so aufmerksam zugehört wie sie. Irgendwie waren sie mir vertraut, von der ersten Minute  an.“
„Danke, Regina, ich bleibe gern hier, ich kann auch gar nicht anders, denn wir haben noch vieles miteinander zu bereden.“
Während Regina mir im Gästezimmer das Bett bereitet und nebenan nach ihrem Jungen schaut, schließe ich in meinem Kopf mit Klaus Weiding meinen Frieden.
Am nächsten Tag gab ich mich Regina Bender zu erkennen. Ich gewann eine Freundin und nahm die neue Erfahrung einer anderen Dimension von Menschlichkeit mit mir.

 

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Finale eines langen Abschieds
 
Mein sehnlichster Kindheitswunsch, ein Fahrrad zu besitzen, war an meinem achten Geburtstag in Erfüllung gegangen. Mein Vater hatte es mir aus Schrottteilen zusammengebaut und mit Liebe und Lack in ein wahres Schmuckstück verwandelt.
Zehn lange Jahre liebte und pflegte ich es. Dann ließ ich es bei einem, den ich noch mehr liebte und bekam es nie zurück. Mein Fahrrad verschwand wie der, bei dem ich es gelassen hatte.
Längst schon sind die Radwege meiner Kindheit durch die einst endlosen Wiesen und Felder vor der Stadt breiten Autostraßen gewichen. Seit kurzem krallt sich in den fruchtbaren schwarzen Boden ein riesiges Einkaufscenter. Vor einer Woche hatte die lokale Presse mit einer ganzseitigen Annonce seine Eröffnung angekündigt. Heute öffnet es seine Pforten. Und wäre da nicht dieses Photo gewesen und dieser Name - ich hätte meinen ersten Besuch auf einen späteren Zeitpunkt verlegt.
Der Ansturm hupender, drängender und einander behindernder Autos auf die vier Parkplätze reißt an diesem frühen Vormittag nicht ab. Massen von Schau- und Kauflustigen strömen in die Verkaufshallen. I c h bahne mir den Weg zu einem Podest, auf dem der Chef persönlich eine Tombola leitet. Fahrräder werden verlost.
Für einen Augenblick scheint es mir, als stünde die Zeit still, um den Rückwärtsgang einzulegen. Die Phrase „Ironie des Schicksals“ bekommt für mich in diesem Moment Sinn. Dieser fahrradverlosende Mann dort oben - nein, ich irre mich nicht - war meine allererste Liebe und - wie ich lange glaubte - meine größte: Harald Börner.
Die meisten Menschen, denen man begegnet im Leben, hinterlassen keine Spuren. Sie kommen und verschwinden wie Sternschnuppen. Andere wiederum verweilen oder begleiten Dich einige Wegstrecken und hinterlassen Eindrücke, die Dich schmücken oder verunzieren. Wenigen nur gelingt es, sich in Deinem Inneren einzunisten und immer da zu sein. Bist Du einsam, wühlen sie auf mit ihrer Allgegenwart, bist Du es nicht, stören sie, Dich und den anderen neben Dir...

Der Juni 1961 war heiß und trocken, die Stimmung im Lande - gespannt und strebte einem Höhepunkt zu. Ich war verliebt und hatte nur Sinn für den Sommer und Harald. Meine Treffen mit ihm waren immer häufiger und intensiver geworden, die Einwände meines Vaters - immer vehementer: „Ich will nicht, dass Du Deine Zeit mit dem verbringst. Ihr passt nicht zueinander. Er wird Dich fallenlassen.“
Harald war klug und las viel. Immer wieder sprach er von seiner Sehnsucht nach fremden Ländern. Und wenn es eng wurde in meiner Brust und Verlustangst mich wortlos machte, tröstete er mich: „Aber ich hab’ Dich ja, ich kann mir nicht vorstellen, Dich jemals zu verlieren.“
Dabei hatte er Trauer im Blick und Leidenschaft in der Stimme. Erst viel später wurde mir klar, dass es Verzweiflung und das Wissen um das baldige Ende waren.
An einem langen warmen Juniabend blieb ich allein an unserem heimlichen Treffpunkt, der alten Holzbrücke, bis der Morgen anbrach. Auf dem Heimweg kamen mir immer wieder Haralds Worte von unserem letzten Treffen in den Sinn:
„Falls ich nicht komme, warte nicht, M., Ich melde mich dann.“
Am jenem Morgen - es war ein Sonntag - zog es mich zum Haus seiner Eltern. Davor - zwei schwarze Karossen. Vier wichtig aussehende Männer sprachen mit den Nachbarn. Die hatten undurchdringliche Mienen und zuckten mit den Schultern.
Was ich ahnte, wurde mir später durch das Reden der Leute zur Gewißheit: Harald war mit seinen Eltern „abgehauen, nach drüben“. Kurz vor dem Mauerbau.
Da steht er nun, drei Jahrzehnte danach, und tönt jovial über die Köpfe der Leute hinweg. Ich dränge nach vorn und sehe sein vertrautes und doch fremdes Gesicht, folge seiner gepflegten Sprechweise und vermisse die Mundart seiner Jugendzeit.
Ich krame in meinen Erinnerungen und suche nach Gefühlen. Vergeblich.
Auf dem Heimweg denke ich an meinen Sohn und fühle mich ihm so nah wie lange nicht mehr...

 
     
Wer zuerst kommt …

Ingrid Lenz saß bereits seit zwei Stunden in der Hauptverwaltung der renommierten Bau-AG in der Main-Metropole. Ein Herr Wolter, den sie treffen sollte, war „unvorhergesehen“ geschäftlich verhindert.
Ihr war kalt unter dem Neonlicht in dem langgestreckten fensterlosen Raum. An zwölf Personalcomputern klapperten zwölf Menschen. Manchmal unterbrachen sie ihre Arbeit. Dann flüsterten sie miteinander und sahen verstohlen zu ihr hinüber.

„S i e  sind sicherlich die Dame aus Magdeburg?“ Eine Stimme mit Schweizer Dialekt riss sie aus ihren Betrachtungen über einen jungen Mann mit gelber Krawatte.
Sie stand auf. Ein farbloser Mittvierziger, wenig jünger als sie, reichte ihr die Hand. Hinter einer Designerbrille fixierten sie kühle graue Augen..
„Kommen Sie!“ Sie folgte ihm in ein schmuckloses Büro. Durch das große Fenster fiel ihr Blick auf üppige Kübelpflanzen in einem sonnenlosen Innenhof.
S e i n  Blick huschte flüchtig über ihr blaues Kostüm bis hinunter zu ihren Pumps.

„Eigentlich kommen Sie heute sehr ungelegen. Wir stecken nämlich mitten in den Vorbereitungen eines Wohnungsbauprojektes für Russland, das in Kürze...“
„Deswegen bin ich hier, Herr Sallin. Sie sind doch Herr Sallin, der Personalchef?“
„O ja, natürlich, ich habe mich wohl nicht vorgestellt, ich glaubte, Sie wüssten...“
„Und  i c h  glaubte,  S i e  wüssten...“ Sie lächelte.
„Bitte“, mit einer Handbewegung über seinen Schreibtisch hinweg wies er auf einen Stuhl. „Wie sind Sie überhaupt hierhergekommen?“
Sie machte große Augen. „Mein Sohn hat mich mit dem Auto...“
„Sie verstehen nicht. Wer hat Sie geschickt?“ Er schaute auf seine Armbanduhr.
Sie wurde blass. „Herr Sallin, den Termin habe ich mit Ihrem Projektleiter Herrn Wolter vereinbart, telefonisch. Dabei ist auch Ihr Name gefallen. Den Tip mit der Stelle habe ich von Ihrem Partnerkonzern in Österreich. Der hat nämlich den Baubetrieb, in dem ich beschäftigt war, gekauft. So bin ich arbeitslos geworden.“
Sallin griff nach dem Hörer, ließ ihn aber gleich wieder fallen. Strategiewechsel!

„Sie sagten, Ihr Sohn hat Sie mit dem Auto hergefahren. Da mussten sie sicherlich schon sehr früh aufstehen.“ Er schüttelte den Kopf und putzte seine Brille.
„Nun ja, um 5 Uhr“, bestätigte sie und empfand dies als eine ihrer leichtesten Übungen an diesem Tag des Jahres 2 nach der Wende.
„Ja, dann wissen Sie sicher auch, mit was für einem Unternehmen Sie es hier zu tun haben?“ heischte er Respekt, und ohne ihre Antwort abzuwarten: „Und was Ihnen die Arbeit als Dolmetscher abverlangt in  Russland?“ Er lehnte sich zurück und ließ in der Rechten seine Brille baumeln.

Alle Regeln für ein Bewerbungsgespräch missachtend schob sie ihm eine Mappe hinüber. „Hier sind meine Unterlagen.“
Während er oberflächlich blätterte, überlegte sie: Meinte er ihre Qualifikation, so war eines seiner Klischees im Spiel. Meinte er die äußeren Bedingungen, so war er ahnungslos.
Sie stellte sich Herrn Sallin in einem nach Bohnerwachs, Himbeerseife, Knoblauch, Zigaretten und Wodka „duftenden“ Büro vor und lachte in sich hinein.
Dabei ertappte auch sie sich bei klischeehaften Gedanken...

Mit unbewegter Mine schob er die Mappe weit von sich und faltete die Hände. „Wir hatten heute zwar nur einen Bewerber erwartet. Aber da Sie nun einmal hier sind, Frau Lenz, setzen Sie sich bitte draußen an den PC und übersetzen Sie.“ Er reichte ihr einen Ordner. „Sie haben zwei Stunden Zeit.“
Sie nickte und musste  s c h o n  wieder lächeln: “Herr Sallin, dort, woher ich komme, gab es leider keine Hochtechnologie. Bitte geben Sie mir eine Schreibmaschine!“
„Nun gut...“ Er erhob sich steif. „Übrigens, der Einsatz beginnt in drei Tagen.“
„Wenn es sein muss, schon morgen“, spielte sie mit und wusste es besser.
Mit dem Ordner unterm Arm folgte sie ihm an einen Platz mit Schreibmaschine.
Während Sallin ihr die von zwei Herren begutachteten Texte zurückgab, wurde hinter ihr dem jungen Mann mit der gelben Krawatte Glück gewünscht...

„Tja, Frau Lenz, die Sprache beherrschen Sie. Aber wie ich Ihnen ja bereits sagte...“
„Darf ich bitte meine Mappe wiederhaben?“ Sie hasste ihn in diesem Moment.
Er gab sie ihr zurück, so gut wie ungelesen.

„Wissen Sie...“ Er holte tief Luft. Zum ersten Mal sah er ihr gerade ins Gesicht. „Sie könnten auch hier bei uns..., wir benötigen jemand, der qualifiziert...“
„Nein“, frohlockte sie, „ h i e r  zu arbeiten reizt mich nicht.“
„Nicht? Was hindert Sie?“ Seine Augenbrauen erhoben sich über den Brillenrand.
Sie sah durch ihn hindurch und dachte: „Versteht er denn wirklich nicht? Sollte ich etwa acht Stunden lang den Personalcomputer traktieren und ständig zum Nachbarn hinüberschielen, ob der vielleicht schon mehr geschafft hat als ich? Sollte ich fensterlose Mauern ertragen und Menschen mit Designerbrillenblick?
Hier kühlt nichts. Hier wärmt nichts. Hier ist alles so fern wie der Mond.“
Dann sagte sie deutlich: „Die Entfernung; sie ist viel zu groß“, und leise: „Noch.“

Er fühlte wohl, was sie meinte. Deshalb schwieg er.

 

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Ein Mohr unserer Tage

Langsam kommt Rainer zu sich. Es ist Juni und sehr früh schon hell. Wie ein rotglühender Riesenball schiebt sich die Sonne über den Horizont der Elbauen. Drei Gestalten auf Fahrrädern nähern sich ihm. Er erkennt zwei Männer mit Angelausrüstungen und einen Jungen von etwa 10 Jahren. Sie steigen ab.
Einer ruft von weitem:
„Hatten Sie einen Unfall? Sollen wir die ...“
„Nein, nein“, unterbricht er unwillig , „es geht mir gut, es ist auch nicht mein Auto.“
„Das stimmt, Papa, das Auto hat schon gestern Nachmittag hier gestanden, ohne Nummernschild. Irgendwer hat es hier  reingeschubst, weil er’s loswerden wollte. Und der da, der war sicher voll und hat in dem Auto nur gepennt.“

Die drei entfernen sich zögernd. Rainer bleibt fröstelnd zurück und erinnert sich...

Wieder einmal hatte der Wirt bereits die Stühle hochgestellt, als er seine Stammkneipe, das „Bootshaus“ an der Elbe, verließ. Speiübel war ihm, vom Bier, vom Schnaps - und überhaupt. Nur mühsam fand er in der Dunkelheit den Weg durch die Wiesen.
Am ehemaligen Ruderclub, von dem nur ein verfallener Schuppen übriggeblieben war, machte er halt, um seinen Brummschädel  gegen eine Bretterwand zu lehnen.
Dann kamen die Erinnerungen an Bettina wieder. Hier im Club hatte er sie getroffen - vor elf Jahren. Mit der Wende wendete auch sie sich, ab von ihm und einem anderen zu - mit Nobelkarosse. Er - Rainer Mohr - durfte gehen, aus ihrem Leben und auf Jobsuche. Denn auch seine Firma war gegangen - in die Gesamtvollstreckung.

Irgendwann stolperte er weiter, vorbei an dem der Elbe vorgelagerten Baggersee, den Einmannbunkern aus Kriegstagen, in denen sie als Kinder Verstecken spielten, und die mit Gras und Unkraut überwucherte Mülldeponie. Dort, wo der Weg in die von einem Graben gesäumte Straße mündet, ragte im fahlen Mondlicht schwarz und reglos ein Ungetüm über den Grabenrand. Noch ehe er’s sich versah, strauchelte er und prallte mit der Stirn gegen eine scharfe Kante. Benommen und mit vor Blut blinden Augen robbte er vorwärts, bis er an eine Öffnung gelangte und sein Kopf auf etwas Samtigem liegenblieb. Dann wurde es ganz dunkel.

Die drei sind inzwischen weit weg. Er ist mit seinem nächtlichen Gefährten allein. Verdreckt und morgentaubenetzt liegt er da, jämmerlich schief, die Beifahrertür offen, am Heck eine Beule, wie von einem zusätzlichen Tritt. Ausgedient.
„Mein Gott“, schießt es ihm durch den Kopf, „der Junge hätte m e i n e r  sein können. Auch  e r  müßte jetzt zehn sein.“ Er fühlt sich miserabel.

Rainer hockt am Grabenhang und stiert aus seinem geschundenen Gesicht auf das Wrack vor sich. Ihm scheint, als starrten ihn mit den erloschenen Scheinwerfern seine eigenen glanzlosen Augen an, als klaffte ihm mit der offenen Tür sein eigener Mund entgegen, ratlos stumm, gelähmt in dumpfem, sinnlosem Dahintreiben.

 

Das Loch im Eisentor

Es ist schon spät. Vom Fenster aus beobachte ich meinen Sohn Michael, der schon zum fünften Mal hintereinander „zum letzten Mal“ mit seinen  Freunden Verstecken spielt.
Eigenartig, dass er sich immer freiwillig zum Suchen meldet.
„Zehn, zwanzig, dreißig, vierzig ...“, zählt er hinter dem hohen Eisentor des Kinderhorts, einer ehemaligen Villa, während die anderen in Hauseingängen oder hinter vereinzelt herumstehenden Autos verschwinden. Kaum „hundert“ gebrüllt, stößt er das Tor auf, stürzt zielgerichtet in die ausgesuchten Verstecke und hat im Nu alle entdeckt. Die anderen sind verärgert und stänkern.

„Irgendwer beobachtet uns und verpetzt alles.“ Ich fühle mich angesprochen, doch schuldlos, und verschwinde vom Fenster.
Gleich darauf erscheint Michael, abgehetzt und triumphierend. „Wenn die wüssten...“
„Wenn wer was wüsste?“
„Dass ich durch das Tor alles sehen kann.“
„Wie das denn?“
Da ist an der Seite ein Loch, innen ausgefranst. ‘s muss da mal ‘ne Knallerei gegeben haben.“
„Ach!“
„Doch. Bestimmt ‘ne Verbrecherjagd oder so. Keiner weiß, wo das Loch ist, nur ich. Da steht nämlich ‘n Holunderbusch davor. Ganz an der Seite ist es. Wenn ich durchkucke, sehe ich die ganze Straße.
„Und, wo sich alle verstecken.“
„Jaha.“
„Willst du wissen, wie das Loch wirklich entstanden ist?“
„Du weißt das? Erzähl mal!“
Ich verspreche, es morgen zu erzählen,

Ich bin allein mit meinen Gedanken.
Zum wiederholten Male erkenne ich, dass es mit den Kindheitserinnerungen ist wie mit einem durch eine Lupe gelesenen Buch. Man sieht die Zeilen, unvollständig und verzerrt, immer aber vergrößert. Es fällt schwer, Zusammenhänge zu erfassen. Erst mit dem bloßen Auge, aus angemessener Entfernung, erkennt man eine gewisse Einheitlichkeit:
Ich sehe mich an einem Sommertag des Jahres 1953. Es ist der 17. Juni, ein Mittwoch. Meine Mutter hatte mich gerade geweckt. Mit dem Gedanken an die heute steigende Erdkundearbeit stehe ich auf. Ich bin gut vorbereitet und freue mich auf den Tag, auf meine Freundin und Banknachbarin und Herrn Westermann, meinen von mir gefürchteten und geliebten und von eigentlich allen verehrten alten Lehrer. Er hatte das Tausendjährige Reich mit Abstand und Anstand hinter sich gebracht und durfte uns, nun rehabilitiert, unterrichten.

Durch das Klingeln meiner Freundin Renate entgehe ich knapp meinem von Mutter verordneten Frühstück: Haferbrei.

Draußen empfängt uns ein makellos blauer Himmel.
Die Zweige der den Gehweg säumenden Robinien werfen im Morgenwind zitternde Schatten auf das sonnenbeschienene Pflaster vor unseren Füßen. Alles strahlt, es atmet sich leicht, die Seele schwebt, nahezu unbelastet, offen für den Tag und alle Tage danach.

Mit dem ersten Klingeln betritt Herr Westermann die Klasse. Ich schubse mein Erdkundebuch unter die Bank und erwarte das Zeichen zur Klassenarbeit. Hinter mir tuschelt es, neben mir raschelt es. Zettelchen fliegen über die Bankreihen, um Radiergummis gewickelt, und alles ist wie immer. Doch dann geschieht das Unerwartete: Plötzlich steht ein Mann im Klassenzimmer. Er hat gewagt, ohne Anzuklopfen die Tür aufzureißen und ohne Gruß auf unseren Lehrer zuzustürmen. Mit ausholenden Gesten redet er leise auf ihn ein, zieht seinen verdutzten Jungen aus der Bank und verschwindet mit ihm so schnell wie er gekommen ist.

„So, nun hört mal alle her!“ Herrn Westermanns Gesicht ist ernst und angespannt. „Ihr packt jetzt eure Sachen zusammen, ohne Lärm und geht nach Hause, schnurstracks! Habt ihr mich verstanden?“
„Ja“, kommt es leise aus 25 Mündern. Wir ahnen Unheilvolles und wagen nicht zu fragen.

Auf der Hauptstraße empfängt uns dann ein nie gekanntes Treiben. Menschen stehen in großen und in kleinen Gruppen beieinander, diskutieren heftig, streiten und schimpfen. An einer Hauswand lehnt ein Mann Ein anderer steht breitbeinig vor ihm und schlägt ihm immer und immer wieder mit der Faust ins Gesicht und in den Magen. Die Umstehenden grölen Beifall. Einige sehen schweigend zu, andere wenden sich ab, keiner schreitet ein. Im Gewühl packt mich eine Hand.

„Papa!“
„Komm jetzt weg hier!“
„Was ist los? Warum hauen die den Mann?“
„Weiß nicht, vielleicht hat er’s verdient.“
„Aber ...“
„Komm jetzt!“

Ich laufe an seiner Seite neben ihm her und verstehe die Welt nicht mehr.
An der Litfaßsäule vorm Milchladen zerrt eine Gruppe 8-Klässler einem kleineren heftig sich wehrenden Jungen unter Tritten und Faustschlägen das blaue Pioniertuch vom Hals. Ich fange an zu heulen und denke an mein frisch gewaschenes und gebügeltes, das ich heute morgen über die Stuhllehne gehängt und vergessen habe.
Mein Vater will dem Kleinen helfen.
„Rotes Schwein“, beschimpfen sie ihn, „du kommst auch noch dran.“
Womit sollte er dran kommen? Was war passiert?
„Papa, was ist denn nur los?“
„Sie wollen den Kommunisten an den Kragen.“
„Wieso?“ Ich weiß, daß Vater auch manchmal auf die Kommunisten schimpft.
„Die Ribbes von neben an mit ihrer großen Klappe sind auch schon ganz kleinlaut“, wirft meine Mutter ein, die uns entgegengekommen ist. „Denen werden sie auch noch auf die Bude rücken.“
Ich verstehe gar nichts; ich weiß nur, dass man sagt, die Ribbes seien Kommunisten.

Es klingelt an der Wohnungstür: Unsere Nachbarin.
„Haben sie schon gehört? Der Rote Stern von R. Wolf ist runter, Die beiden, die das waren, haben sie schon, Sie werden kein Pardon kennen, dieses Pack.
Wer waren ‘Sie’? Wer war das Pack? Wer bezeichnet wen als Pack?
Worte wie Schweine, Pack, Verbrecher höre ich noch oft an diesem Tage.
In meinem Kopf ist Chaos.

Dann fällt irgendwann im Radio oder auch anderswo das Wort „Ausnahmezustand“. Das bedeutete Ausgangssperre ab 22 Uhr. Die Russen wollten das so, sagen die Großen. Ich finde das in Ordnung, sind die Russen doch unsere Freunde und Beschützer. Viertel nach Zehn gerät meine Einstellung ins Wanken, wohl auch die von Frieda Kiesel.

Sie war damals, 1953, als ich zwölf war, weit über die Siebzig. Stets trug sie an ihrer Kittelschürze - so auch an jenem Abend - das Abzeichen mit den verschlungenen Händen wie einen Schutzschild.
„Parteiveteranin“ nannten die Leute sie. Die einen mit Ironie in der Stimme oder gar einem drohenden Unterton; einige andere aber auch mit unverhohlener Hochachtung. Ich hingegen sagte und dachte noch so ziemlich all das, was meine Eltern und meine Lehrer sagten und dachten. Deshalb trug ich ohne Widerworte mein blaues Halstuch und grüßte immer schön artig alle Leute, sogar die giftige Demuth von nebenan, die uns mit konstanter Bosheit von der Straße vertrieb, oder mit Schrubber und Wasser unsere mit Kreide aufs Pflaster gemalten Hippedings wegwischte. Dabei rannte sie jeden Sonntag ein paar mal in der Woche in die dem Dom gegenüberliegende Kirche.

Gelegentlich erteilte Frieda Kiesel in Proletarierart  lautstark und drastisch über die Straße hinweg, in Richtung des offenstehenden Fensters von Frau Demuth, Lektionen über Kindererziehung, über veraltete Anschauungen und sozialistischen Denken und Handeln. Wir Kinder verstanden: Sie mochte uns. Deshalb mochten wir sie.

An jenem 17. Juni 1953 missachtet sie die Ausgangssperre.
Als um 22 Uhr die Straße menschenleer ist, geschieht das Ungeheuerliche. Die Bewohner der Straße drängen sich Kopf an Kopf an den Fenstern, lehnen sich weit hinaus, damit ihnen ja nichts entgehe.
Da betritt Frieda Kiesel die Straße, schaut triumphierend in die Runde und ignoriert gutgemeinte Warnungen von einigen Leuten, indem sie sich mit gespreizter Geste auf die Brust tippt, dorthin, wo ihr vermeintlicher Schutzschild sitzt. Die weißen Haare unter ihrem Haarnetz verstaut, den Strickstrumpf unter dem Arm, pflanzt sie sich an der Straßenecke auf.
Alle flüstern nur noch. Hin und wieder ein verhaltenes Kichern von irgendwoher.

Etwa zehn Minuten vergehen, als aus der Ferne ein dumpfes Rollen zu hören ist.
„Eine Fahrzeugkolonne“, sagt mein Vater.
Das Rollen wird lauter, das erste Fahrzeug schiebt sich in langsamer Fahrt vorüber und vermindert weiter das Tempo, bremst, bleibt stehen.
Ein Ruck geht durch Frieda Kiesel. Klein und rund wie sie ist - tippelt, nein, watschelt sie mit ihren bandagierten kranken Beinen in nie gesehener Geschwindigkeit auf ihre Haustür zu, begleitet vom Hohngelächter aus hunderten Kehlen. Das verstummt so schnell wie es ausgebrochen ist, als ein russischer Soldat, wohl verkennend, wem das Gelächter galt, vom Fahrzeug springt und genüsslich langsam sein Gewehr durchlädt. Ein einziger trockener Knall peitscht durch die Straße und die Leute von den Fenstern. Dann fährt die Kolonne weiter und die Fenster füllen sich, erst zaghaft, dann immer dreister, wieder mit Köpfen.

Frieda Kiesel wird an jenem Abend nicht mehr gesehen. Sie tut mir leid.

Am nächsten Tag suchten wir Kinder zielstrebig nach einem  Loch im Eisentor der Villa und fanden es: Dreißig Zentimeter von der Mauer entfernt, etwa achtzig Zentimeter über der Erde, zur Hofseite hin ‘ausgefranst’. So blieb es jahrzehntelang. Auch noch dann, als aus der Villa längst ein Schulhort geworden war. Vor nicht allzu langer Zeit wurde das alte Tor ausgewechselt und der Schulhort wieder  zur Villa.

Im Bett liege ich noch lange wach und überlege, wie ich meinem Sohn die Geschichte vom Loch im Eisentor erzähle: So, dass auch  er  über Frieda Kiesel lacht, so, dass sie ihm, wie  m i r  damals, leid tut, oder so, dass er mehr über die Zeit der ‘verschlungenen Hände’ erfährt?

Ich glaube, ich entscheide mich für letzteres. Den Rest zu verstehen überlasse ich ihm.

 

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Nur ein Stein ...

Zum fünften Mal in Großdeutschland war es Mai, als mein Auto bei dem kleinen Ort A., knapp 50 km von M. entfernt, seinen Geist aufgegeben hatte. Ich fand eine Werkstatt und nutzte die mir verbliebene Zeit für einen Spaziergang durch den Ort. Die Vorgärten waren gepflegt, die Häuser - gediegener denn je.

Bereits zu Kaisers Zeiten, später dann unter dem Hakenkreuz, und danach 40 Jahre lang im Zeichen des Sowjetsterns hatten die Menschen des Ortes Garnisonen in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft dulden müssen.
Zu allen Zeiten lebte man hier damit recht und schlecht, insgesamt jedoch verordnet einvernehmlich.
Viele kannte ich durch meine Arbeit als Sprachmittlerin zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer. Die Wende ließ beide Seiten in Regen stehen. Die einen gingen zurück in eine fremde Heimat, die anderen blieben zurück und hatten sich mit einer nunmehr fremden Heimat zu arrangieren.
So auch ich.

Ich hielt Ausschau nach vertrauten Gesichtern, sah aber nur in fremde. Ich verharrte an Gartenzäunen und suchte nach mir bekannten Namen auf den Schildern an den Pforten, bis in einem Vorgarten am Ende der Straße ein Stein meinen Blick auf sich zog. Er lag etwa zwei Meter seitlich von der Gartenpforte entfernt und hatte die Form einer etwas schiefen Pyramide mit einer abgerundeten Spitze, in der eine Delle war.  Das Wasser vom letzten Regen war noch darin.
Eigentlich lag er nicht da, dieser Stein. Er thronte, umgeben von Rasen und Blumen, zum Liegen zu rund und viel zu imposant. Und glatt war er, abgeschliffen von den Strapazen einer Jahrtausende währenden Wanderung inmitten von Gletschereis, Schlamm und Geröll.
Meine bis dahin schlechte Laune wich urplötzlich einer großen Heiterkeit, so dass ich Mühe hatte, nicht ständig vor mich hin zu lachen.

Ein Novembertag, feuchtkalt und grau, fast ein Jahrzehnt zurück, drängt aus meinem Gedächtnis und weckt Erinnerungen: In jenem unweit von M. gelegenen kleinen Ort hatte unseren verantwortlichen Bauleiter Dieter D. aus der benachbarten Garnison die Nachricht erreicht, dass die Trafostation auf dem Schießplatz mal wieder aufgebrochen und im Innenraum mit „Tretmienen“ verziert worden war. Leere Wodkaflaschen zeugten von fröhlichem Soldatenleben während der nächtlichen Wachen.
„Du musst herkommen!“ tönte er durchs Telefon, „unsern Freunden die Leviten lesen. Bei mir klappt das bloß auf Deutsch. Und dass Du alles sagst, was ich auch sage!“

Ich fuhr hin, obwohl ich besseres zu tun hatte, und dachte mit Unbehagen an das cholerische Temperament meines Kollegen. Zum Glück war sein Russisch nicht gut genug, um notwendige Mogeleien durchschauen zu können.
„Wo ist der diensthabende Elektriker?“ herrschte Dieter auf dem Schießplatz den erstbesten Soldaten an, aus dessen Kindergesicht sich erschrockene Augen auf mich richteten, wobei er noch mehr in seinem ohnehin viel zu weiten Mantel zu versacken schien.
„Schläft sicherlich, hatte Nachtdienst.“
Bibbernd vor Kälte, den Berg Arbeit auf meinem Schreibtisch. vor Augen, übersetzte ich verstimmt und in abgeschwächter Form die nun folgenden Schimpftiraden meines Kollegen.
Der Soldat stolperte los, so schnell es seine klobigen Stiefel und sein langer Mantel zuließen.
Nach einer halben Stunde hetzte er wieder heran und stieß schon von weitem atemlos hervor: „Er kommt gleich!“
„Was heißt hier ‘gleich’? Sofort! Und ein Schloss muss her, ein vernünftiges. Hast du ihm das gesagt?“
Ich schluckte. „D u  hast davon nichts gesagt, Dieter.“
„Ist doch selbstverständlich. Sag ihm das. Dass der mir nicht ohne Schloss kommt!“
Ich übersetzte.
Wieder machte sich das Jüngelchen in Uniform auf die Stiefel.

Verzweifelt gestikulierend kam er nach einer weiteren halben Stunde wieder angestampft: „Chas pridjot, chas.“
Gleich war 40 Minuten später. Eine Gestalt, rotgesichtig und unrasiert, wankte auf uns zu und zog mürrisch ein ganz normales Kellertürschloss aus der Hosentasche.

„Was soll  d a s  denn?“  blaffte Dieter, den Kopf vorgestreckt wie ein angriffslustiger Büffel, die ratlos wütenden Augen abwechselnd auf mich und den Rotgesichtigen gerichtet, „ich will kein Kofferschloss, sondern ein richtiges, „wot takoj!“ und beschrieb mit den Händen einen Kreis von den Ausmaßen eines Klodeckels.
„Budjet, budjet“, beschwichtigte der Rotgesichtige und trollte sich.

Ich trampelte mir die Füße warm und guckte in eine Richtung, in der es nichts zu sehen gab.
Irgendwann - die nasse Kälte hatte sich bis auf die Knochen durchgearbeitet - holperte über das unebene Gelände ein Kipper heran, machte rumpelnd kurz halt, rangierte einige Male hin und her, näherte sich dann rückwärts der Trafostation und blieb zwei Schritte vor ihrem Eingang stehen.
Sprachlos sahen wir zu, wie sich ächzend und knarrend die Ladefläche hob. Es polterte einige Male, dann -  ein dumpfer Plumps.
Ein Findling mit einem Durchmesser von gut einem Meter fläzte vor der Eingangstür der Trafostation.

Ich war erst einmal weder zum Lachen noch zu sonst irgendeiner Reaktion fähig und belauerte das Gesicht meines Kollegen, das jeden Moment zu platzen drohte. Doch statt dessen prustete der los, dass ihm die Tränen übers Gesicht liefen.
„Choroscho?“ fragte der Kipperfahrer zufrieden belustigt und rieb sich die Hände.
„Choroscho“, kam es resigniert von Dieter, indem er sich mit dem Jackenärmel das Gesicht wischte, lachte und abwinkte, lachte und abwinkte, und lachte und abwinkte...

Eine mir bekannte Stimme riss mich aus meinen Gedanken: „Wie lange willst du hier noch so stehen? Oder willst du ihn mir wegnehmen, den Dicken da? Komm lieber rein und trink Kaffee mit uns!“
Der das sagte, war Dieter D.
Nach Auflösung der Garnison und dem Abriss der Trafostation hatte er sich den Stein mit der Delle geholt...


 
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