WILLKOMMEN
bei Marianne Marlene Peternell

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Klarissa hatte kaum etwas zu sagen. Sie träumte viel. Sie saß in der Klasse und sah träumend auf den Baum vor dem Fenster. Er sah finster aus mit seinen vielen dunklen Blättern. Dahinter ein Haus. Ein Haus mit vielen Giebeln, Erkern, der Putz blätterte ab. Sie war sicher, dass es ein Geisterhaus war. Oder zumindest ein Haus, in dem merkwürdige Dinge vor sich gingen. Nie hatte sie jemanden hineingehen oder herauskommen sehen. Heute hörte sie Geräusche von dort. Doch nur undeutlich. Sie stieß Fatma an und sagte es ihr flüsternd. Fatma war die einzige, mit der sie darüber sprechen konnte. „Es ist jemand da. Es klopft.“ Fatma schrak zusammen. Sie war dabei zu rechnen. 35+27. Das war nicht einfach. „Was?“ „Es klopft. Schau.” Fatma schaute. Sie flogen aus dem Klassenzimmer in das Haus. Ein alter Raum war es, ein alter Raum mit abgeschabten Möbeln. Ein elegantes geschwungenes Sofa mit Plüschbezug, ein riesiges Bild, das einen Offizier zeigte, Säbel an den Wänden, kleine Tischchen und Stühle. Niemand zu sehen. Sie wandten sich nach links, stiegen die Treppe hinauf, irgendwo klopfte es. Im oberen Stock begegnete ihnen niemand. Sie schlichen den Gang entlang, er war schon lange nicht ausgemalt worden, die Wände waren geschwärzt. Sie spürten die Anwesenheit von etwas Bedrohlichem, Ungeheuerlichem, etwas Grausames war hier. Eine alte Frau kam gestützt auf einen Stock durch eine Tür gehumpelt. Sie hatte viele Runzeln und schaute sie nicht an. „Hannah!“, schrie sie schrill. „Hannah!“ Da kam eine Frau, sie war rüstig, doch nicht mehr jung angelaufen. „Ja, Mama? Du sollst doch nicht aufstehen, Mama! Brauchst du etwas?“ „Nie bist du da, wenn ich dich brauche!“,schrie die Alte und schlug die jüngere mit dem Stock auf den Kopf. „Ich habe schon lange gerufen! Ich kann nicht allein aufs Klo gehen, das weißt du. Wozu bist du überhaupt da?“ „Ja Mama, entschuldige Mama, ich habe mich nur kurz hingelegt. Ich war müde. Du weißt, letzte Nacht!“ Dann stütze sie die Alte und die beiden humpelten davon. Klarissa und Fatma wussten, dass in diesem Haus viele Geheimnisse lagen. Im Garten der Villa hatten Räuber einen Schatz vergraben, es gab einen hohen Zaun um den Garten. An der verborgenen Stelle ging es tief nach unten, eine Falltür. Ein eisernes Gitter fiel herab und sie hatten keinen Schlüssel. Niemand konnte herausfinden, wer den Schatz hier vergraben hatte, wem er gestohlen worden war. Die Räuber konnten jeden Moment wieder kommen, wie wilde Hunde umschlichen sie ihren Schatz. Fatma und Klarissa mussten fliehen. Klarissa half Fatma mit einer Räuberleiter aus dem Loch, Fatma zog Klarissa, dann rannten sie, sie waren hinter ihnen her. „Hannah!“, schrie es wieder aus dem Haus. Schwarze Hunde auf dem Grundstück. Da flogen Fatma und Klarissa zurück in ihre Klasse. Der Lehrer schimpfte. „Ich werde mit euren Müttern sprechen. Vielleicht sollte ich euch auch zur Psychagogin schicken. Ständig seid ihr mit den Gedanken irgendwo. Ihr sollt in der Schule lernen! Rechnen, schreiben, lesen! Ich bemühe mich, ich bin geduldig, aber ich kann nicht Kinder unterrichten, die ständig mit offenen Augen träumen. Ich werde einen schwarzen Punkt machen bei dir Fatma und bei dir Klarissa. Morgen machen wir Konzentrationsübungen. Danach geht es weiter. Ich hoffe, ihr werdet besser mittun, wer mittut und die Aufgaben erfolgreich löst, bekommt ein Zuckerl. Also, bis morgen!“ Fatma und Klarissa standen mit hochrotem Gesicht in der Klasse. Ein paar Kinder tanzten um sie herum, haha, ihr müsst zum Psychologen, ihr seid nicht ganz richtig im Kopf. Und Zuckerl bekommt ihr auch keins. Ihr habt ja gar nicht aufgepasst. Ein Mädchen schlug Klarissa ins Gesicht, nur leicht, doch der Schlag wog schwer. Mit gesenktem Kopf liefen Fatma und Klarissa nach Hause.

II.

Herbert stand schon die dritte Stunde in der Klasse. Er sah Klarissa nur aus den Augenwinkeln und schon war er wütend. Er mochte sie und er mochte sie nicht. Sie war nicht ganz real die kleine Fee, Wesen zwischen Traumland und Hierland, wer sollte sie erden? Nie war sie, wo alle waren, stets war sie abwesend, spann sich ein, am liebsten würde er vor ihrem Gesicht klatschen, aber dann würde sie weinen. Und dann würde er sich schämen, so zart war sie und so stark, das auch. Sie stieß Fatma an. Fatma war ein nettes Mädchen, sie war immer so bemüht und wollte so gern verstehen, was ihr meist misslang, was ihn wiederum herausforderte, ihr so gut wie nur möglich zu helfen. Und nun stieß sie Fatma an. „Klarissa!“ rief er mahnend durch die Klasse, doch sie hörte ihn nicht. Er wollte nicht, dass sie Fatmas Aufmerksamkeit abzog, Fatma lernte schwer, Klarissa tat sich leicht, das war es nicht. Da bat Tonio ihn, ihm zum wer weiß wie often Mal zu helfen. Er verstand die Zehnerüberschreitung noch immer nicht. Georg hatte aus weiß Gott welchem Grund einen Wutanfall und warf einen Stuhl um. Dann schlug er Sebastian auf den Kopf. Herbert musste Entscheidungen treffen. „Andrea“, sagte er, „bitte setz dich zu Tonio und erkläre ihm, wie du 35+27 rechnest!“ Dann ging er zu Georg, er hielt ihn fest. Das durfte er eigentlich nicht, körperliche Berührungen waren verboten, doch er empfand, Georg brauchte das, er hielt ihn fest, während Georg schrie, inzwischen blutete Sebastian aus der Nase. Die Kinder hatten aufgehört zu rechnen. Sie wollten wissen, wie er die Sache meistern würde. Er sprach mit Georg beruhigend und freundlich. Georg schlug auf Herbert ein, Herbert bat ihn leise aufzuhören und hielt ihn wieder fest. Er wusste, Georgs Mutter war vor einem Jahr bei einem Autounfall verstorben, er wusste, Georg musste sein, wie er war und Freundlichkeit konnte er kaum ertragen. Herbert fühlte sich hilflos, denn einige Kinder forderten harte Strafen für Georg, Klarissa und Fatma träumten immer noch, Sebastians Mutter würde morgen da stehen und sich beschweren, sie war aktive Elternvertreterin. Georg war ein Problem. Er bat die Kinder sich in einen Sesselkreis zu setzen. Er zwang auch Klarissa und Fatma aus ihren Träumen, erwähnte die Psychagogin, Zuckerln. Er bat die Kinder, alle Vorwürfe, die sich gegen Georg angesammelt hatten, vorzutragen und er bat Georg sich alles ruhig anzuhören. Er dachte daran, dass er unbedingt irgendwann mit Klarissas Mutter sprechen musste. Anja erklärte, sie wollte nicht, dass Georg so wichtig war, sie musste auch brav sein.

Die Rechenstunde entfiel. Ob sie das Pensum dieses Semester noch schaffen würden? Es war Vorschrift, doch er konnte nicht anders, er interessierte sich für die Kinder, wer sie waren. Er wollte ein guter Lehrer sein.  

 
III

„Mama, in dem Haus vor der Schule wohnt eine alte Frau, die böse ist. Ich glaube, es ist ihre Tochter, die auf sie aufpasst.. Es gibt dort einen vergrabenen Schatz und Hunde, die ihn bewachen. Ich habe alles genau gesehen und Fatma weiß es auch.“

„Du meinst das Haus mit den Türmchen und den düsteren Tannen davor. Ja, es wirkt seltsam, aber ich denke, es steht da ganz verlassen. Ich weiß nicht, welche Geschichte es hat. Du träumst zu viel.“

„Aber ich weiß es genau und Fatma auch.“ Klarissa weinte. Ihre Mutter streichelte sie und fühlte sich hilflos, denn sie wusste nichts zu erwidern. Waren Häuser nur außen? War etwas dahinter? Was wusste ihre Tochter wirklich? Was sollte sie tun?

Sie erhielt eine Vorladung des Lehrers, Klarissa sollte beim Psychagogen vorgestellt werden, da sie mit ihren Gedanken häufig abwesend sei.

Der Lehrer hielt eine längere Rede. Er erklärte, dass Klarissa einen guten Kopf zum Lernen hätte, wenn sie nicht stets wegträumte. Sie lebte in phantastischen Räumen und, was er nicht dulden konnte, sie steckte schlechtere Schüler an. „Fatma träumt nun auch mit offenen Augen. Die Kinder entwickeln eigene Welten. Wir dürfen sie nicht dort belassen. Sie werden verstehen, Frau Horten, dass ich etwas unternehmen muss.“ „Ich weiß nicht.“, antwortete Klarissas Mutter schwächlich, denn sie hatte keine Ahnung, wie sie widersprechen sollte, was sie erklären sollte von ihren eigenen Zweifeln an der realen Welt. Der Lehrer legte ihr ein Papier vor, zeigte ihr, wo sie unterschreiben musste und sie unterschrieb.

 
IV

Mama sitzt neben Klarissa mit ihrem schönen Kleid und der hübschen Frisur im Zug, der voll ist mit Leuten in schönen Kleidern und hübschen Frisuren. Alle Leute in dem Zug haben Angst. Sie zittern. Manche beten und auch Klarissa faltet die Hände und Tränen der Angst rinnen aus ihren Augen. „Nimm dich zusammen und bete!“, sagt eine Frau, als Klarissa sie bittet mit ihr wegzugehen. „Komm mit mir, du kannst mit mir kommen!“, sagt der Lehrer. Heftig schüttelt Klarissa den Kopf. „Wir müssen bleiben.“ Alle warten auf etwas. Alle sitzen da, ergeben in ihr Schicksal, haben Angst und warten. Ein Zug rast vorbei und alle sehen die Toten in dem Zug: grausam verstümmelte Leichen in hübschen Kleidern und mit hübschen Frisuren. Klarissa bäumt sich auf und schreit, ganz laut, sie bebt am ganzen Körper und es tut gut zu schreien.

Sie wacht auf, sie hat geträumt diese Nacht.
 
 
V

In dieser Nacht starb in dem Haus mit den Türmchen vor der Schule Hannahs Mutter. Hannah beschloss das Haus zu verkaufen und aufs Land zu ziehen, zu flüchten. Sie wollte nichts wissen von den Geheimnissen der Vergangenheit.

Ein Käufer interessierte sich für das Haus. Es gab einen kleinen Skandal, als sich herausstellte, dass es ein arisiertes Haus war. Doch niemand kümmerte sich darum, niemand forschte nach, wer Hannah war, wer die nun tote, alte Frau war und niemand fand den geraubten Schatz, der vielleicht wirklich auf dem Grundstück vergraben lag. Frau Horten, Klarissas Mutter, blieb die unsichere zweifelnde Frau, die tat, was man ihr sagte und nicht wagte zu widersprechen

Klarissa lernte beim Psychagogen die reale Welt anzunehmen und ihre Träume als Hirngespinste abzutun. Sie galt als ein bisschen verrückt. Das war eine Last, die sie ein Leben lang begleiten sollte. Immer wieder würde sie zum Psychologen müssen.

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