Pfarreiengemeinschaft Kallmünz-Duggendorf
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Jetzt ist es ernst! --- Ute Leimgruber (Regensburg), 28.03.2020


„Es ist ernst“, mahnte Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Ansprache zur Corona-Krise vom 18.03.2020 (https://www.youtube.com/watch?v=4YS20YQbVE4&feature=youtu.be). Vermutlich wird man in Zukunft diese drei Worte genauso mit ihr und der Pandemiesituation des Jahres 2020 in Verbindung bringen wie ihr berühmtes „Wir schaffen das!“ aus der Bundespressekonferenz vom 31. August 2015 (https://www.youtube.com/watch?v=kDQki0MMFh4&feature=youtu.be), das als Kernslogan für eine Willkommenskultur in das kulturelle Gedächtnis in Deutschland eingegangen ist. Wenige Worte, die in aller Knappheit deutlich signalisieren, worum es geht.

Als Pastoraltheologin ist es meine Profession, Geschehnisse in Kirche und Gesellschaft zu beobachten und zu analysieren und sie mit der theologischen Diskurstradition in einen wechselseitig fruchtbaren, kreativen und konfrontativen Austausch zu bringen. Je aufregender und krisenhafter die Ereignisse, umso mehr Arbeit für die Pastoraltheologie, könnte man also sagen. Allerdings ist das umso schwieriger, je näher die Krise ist. Das Corona-Virus hat nicht nur die Weltwirtschaft, sondern auch die Kirche mit einer kaum vorstellbaren Wucht getroffen. Wer hätte es schon zu Beginn des Jahres für ein realistisches Szenario gehalten, dass der Papst vor einem leeren Petersplatz an einem regnerischen Freitagnachmittag in der Fastenzeit den Segen „urbi et orbi“ spenden, dass er zwei Wochen später alleine die Kar- und Osterliturgie feiern würde? Dass Gottesdienste staatlich untersagt werden und Begräbnisse nicht mehr im großen Familien- und Freundeskreis stattfinden können? Und wie existenziell wichtig #BleibGesund oder #StayHome werden würde? Selbst wenn jemand noch Anfang Februar 2020 ein solches Szenario beschrieben hätte, es wäre recht rasch in der Kategorie „Verschwörungstheorien“ verschwunden bzw. als „Panikmacherei“ abgetan worden. Und doch ist es so gekommen. Es ist also ernst.

Mittendrin in der Krise kann man sie nur schwer mit dem gebührenden Abstand analysieren. Man kann heute nicht sagen, was diese Krise für die Kirche und das religiöse Leben der Menschen in Deutschland (oder sogar darüber hinaus) bedeuten wird. Und man kann keinesfalls jetzt schon wissen, wie es „nachher“ sein wird. Man kann heute gewiss nichts darüber sagen, was es für die Kirche mittel- und langfristig bedeutet, auf ihr gewohntes „Programm“ verzichten zu müssen. Man kann auch nicht sagen, wie Kirche und Gesellschaft aus der Krise herausgehen werden (gestärkter, solidarischer usw.). Und es wäre geraten, auf Analogien, egal ob mit biblischen, historischen oder literarischen Topoi, zu verzichten.
Das bedeutet aber nicht, dass die Pastoraltheologie angesichts der Ereignisse sprachlos ist. Doch wenn ich heute, Ende März 2020, als katholische Theologin, mittendrin in der Coronakrise – selbst seit zwei Wochen in freiwilliger Quarantäne und nur noch mittelbar durch die Medien und in Telefonaten mit Freund*innen, Kolleg*innen, ja, mit der „Welt da draußen“ verbunden – etwas öffentlich äußere, so tue ich dies unter Einschränkungen und in gewissem Sinne vorläufig.

Trotzdem hat die Kirche mit der Situation umzugehen. Jeder und jede Gläubige, jede hauptamtlich oder ehrenamtlich in der Kirche tätige Person, jeder Priester, jeder Bischof, jede Ordensfrau, jeder getaufte und natürlich auch jeder nicht-getaufte Mensch ist nun in eigener und fremder Sache zu akutem Krisenmanagement gezwungen. So schmerzlich der Verzicht ist – und doch bringt es nichts, in Selbstmitleid zu versinken, weil die Gotteshäuser nicht mehr Versammlungsorte für Liturgie und 2 Gottesdienst sein können. Niemandem ist geholfen, wenn Priester darüber lamentieren, sich selbst zurückziehen oder ihre Depressionen angesichts der ausfallenden Sonntagsgottesdienste pflegen. Auch Mutmach-Kalendersprüche per WhatsApp-Nachrichten zu verschicken, hilft höchstens im Einzelfall. Jede einzelne Person ist für sich von den Ereignissen betroffen. Und jede Person hat andere Bedürfnisse und Nöte, andere Ängste und Hoffnungen.

Was kann Kirche also tun in dieser Gemengelage? Schließlich ist Kirche nicht nur auf das beschränkt, was rund um den Sonntagvormittag passiert (selbst wenn die Illusion darüber noch vor drei Monaten so manches Pfarrgemeindeleben bestimmt haben dürfte). Es lohnt sich darauf zu besinnen, was die Aufgabe der Kirche ist. Und von dort her die Krise zu lesen. Von dort her zu versuchen, als Kirche in der Krise zu agieren, denn: Jetzt ist es ernst. Lehramtliche Autorität über das, was Kirche ist und sein soll, bietet das Zweite Vatikanische Konzil, v.a. mit seinen beiden Kirchenkonstitutionen Lumen gentium und Gaudium et spes.

Wenn Sie jetzt viel „freie“ Zeit haben: Lesen Sie! Und wenn Sie aus den vielen Leseempfehlungen, die derzeit kursieren, etwas auswählen wollen: Lesen Sie eines der Evangelien oder jeden Tag einen Psalm (übrigens auch als Hörbuch sehr empfehlenswert!) und lesen Sie Gaudium et spes(http://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_const_19651207_gaudium-et-spes_ge.html)! Und wenn Sie mögen: Schreiben Sie mir, was Ihnen bei der Lektüre und vor dem Hintergrund der CoronaSituation dabei durch den Kopf geht! Und schreiben Sie mir, wie Sie die unten stehenden Überlegungen in Ihrem kirchlichen Handeln konkretisieren. → pastoraltheologie@ur.de

Die dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium beginnt programmatisch mit den Worten: „Christus ist das Licht der Völker“ (LG 1). Das ist durchaus bemerkenswert, denn im ersten Satz der Konstitution über die Kirche ist keine Rede von der Kirche. Es geht vielmehr um zwei andere Größen: Christus und „die Völker“, also die ganze Menschheit. Bevor das Konzil also ausdrücklich die Kirche bestimmt, macht es die Perspektive klar, unter der dies stattzufinden hat: Die Rede von der Kirche bekommt ihren Sinn erst von Christus und von den Menschen her. Kirche ist „nichts aus sich selbst, sondern empfängt sich ganz von Jesus Christus her; und sie ist nichts für sich selbst, sondern nur das, was sie für die Menschheit ist“, so der Münsteraner Pastoraltheologe Reinhard Feiter. Später heißt es in der Konstitution, dass die Kirche „Sakrament bzw. Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott und für die Einheit der ganzen Menschheit“ (LG 8) ist. Auch hier wieder: Kirche dient nicht sich selbst, sondern zwei anderen Größen: Gott und den Menschen. Es geht um die Beziehung von beidem miteinander. Von dieser doppelten Beziehung her versteht sich Kirche und hat sie ihr Handeln zu konzipieren. Kirche bestimmt sich nicht von dem her, was sie ist, sondern wozu sie dient.

Diese Bestimmung der Kirche steht nicht in einem (dogmatisch) luftleeren Raum, das Konzil selbst stellt eine konstitutive Verbindung mit den „gegenwärtigen Zeitverhältnissen“ her (LG 1). Sie sind der Ort des Glaubens. Der kirchliche Auftrag, Gott und den Menschen zu dienen, hat sich unter den gegenwärtigen Zeitverhältnissen auszubuchstabieren. Die Gefahr dabei ist, die beiden Pole der Ellipse – Gott und die Menschen – voneinander zu trennen und sich pastoralmächtig als eine Deutungsinstanz zu verstehen, die glaubt, Gott zu „haben“ und von dort her zu wissen, was den Menschen dient. Dabei plädiert das Konzil für einen „Ortswechsel“ (Hans-Joachim Sander): Es sind die Menschen, die Kirche ausmachen, von ihnen her und inmitten ihrer Probleme und Nöte hat sich kirchliches Handeln zu positionieren. Das heißt: Die Corona-Pandemie bestimmt die Aufgabe der Kirche machtvoll und unausweichlich, nicht nur aufgrund der staatlichen Beschränkungen im religiösen Leben. Kirche steht vor der – bislang zwar in der Theologie intensiv durchdachten, in der kirchlichen Praxis jedoch häufig ignorierten – Frage, wie sich der Dienst an Gott und den Menschen vollziehen kann, v.a. wenn die gewohnten Sozial- und Kontrollverhältnisse zwischen Sonntagsgottesdienst und Pastoralteamsitzungen nicht mehr funktionieren. Kirche ist jetzt mit Ohnmachtserfahrungen in bislang ungekanntem Ausmaß konfrontiert. Gaudium et spes, die Schwesterkonstitution von Lumen gentium, gibt Hinweise, was möglich wäre – und zeigt auf, welche Lernschritte die Kirche noch zu gehen hat. Denn hier wird deutlich klargestellt, dass Gottes 3 Gegenwart unter den Menschen nicht einfach abstrakt behauptet werden kann, sondern erst in bestimmten Lebenssituationen präsent und erlebbar wird, anders gesagt: im Konkreten und im „Jetzt“ glaubhaft sich ereignet. Dies kann liturgisch ebenso sein wie diakonisch. Gaudium et spes stellt die Kirche mitten in die Ohnmachtserfahrungen der Menschen und der ganzen Schöpfung, und sagt, dass Kirche erst und nur dort Kirche ist, wo sie sich als gläubige Gemeinschaft von Menschen in prinzipieller Solidarität mit allen Menschen und der Schöpfung versteht (vgl. GS 1) und so die humanisierende Bedeutung des Evangeliums freisetzen kann. Das, was das Leben der Menschen ausmacht, ist der Stoff, aus dem Kirche besteht. Und nicht umgekehrt.

Das Leben der Menschen ist derzeit in einer für viele nie geahnten Bedrohungssituation, ob durch das Virus selbst oder seine Begleiterscheinungen: Einsamkeit, Depression, Armut, Arbeitslosigkeit, finanzielle Sorgen, erhöhte Gewalterfahrungen in Familien oder Partnerschaften usw. Mit der Brille des Konzils gelesen wird klar: Hier ist die Basis, von der her der Glaube überhaupt erst zur Sprache gebracht werden kann. Hier ist der Ort, an dem das Evangelium bedeutsam werden kann – oder nirgends. Die Corona-Krise macht aufs Deutlichste sichtbar: Wer es sich in der Kirche zur Hauptaufgabe macht, die religiöse Ordnung und ihre Anwendung zu fixieren oder in der Machtlosigkeit, sie nicht mehr durchsetzen zu können, gefangen bleibt, wird an den Herausforderungen der Gegenwart scheitern. Er oder sie verhält sich gerade nicht gläubig zur eigenen Botschaft, sondern in hilfloser Abwehr gegenüber den Zumutungen, die das Leben schafft und das Konzil theologisch formuliert hat.
Wer die leidenden Menschen bisher an den „Rändern“ verortet, sie in die Zuständigkeiten der professionellen, caritativen Hilfsdienste geschoben und die eigenen kirchlichen Aufgaben primär in Katechese und Liturgie gesehen hat, kann jetzt erkennen, dass das, was das Konzil mit den ersten Worten von Gaudium et spes ausdrückt, auch etwas mit ihm/ihr selbst und mit den eigenen Eltern und Großeltern und Freund*innen und Nachbar*innen – und v.a. mit dem eigenen Selbstverständnis von Kirchesein zu tun hat: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi.“ (GS 1) Der März des Jahres 2020 sagt: Jetzt ist es ernst. Jetzt ist die Zeit, in der die katholische Kirche in Deutschland ernst machen sollte damit, dass ihre sakramentale Aufgabe darin besteht, allen Menschen in ihren Nöten und Einsamkeiten und Ängsten beizustehen und zu dienen. Sie tut dies, wenn sie ihr Handeln von dort her, d.h. von der Situation der Menschen mit ihren Ohnmachtserfahrungen und den Sehnsüchten nach Hoffnung her, angeht. Vielleicht wird die Kirche irgendwann daran gemessen werden, dass sie sich in dieser großen Probe konsequent auf die Seite der Menschen gestellt hat. (Vermutlich wird kein Maßstab sein, wie viele „Geistergottesdienste“ in wackliger Qualität übertragen worden sind.) Die Umstände sind für fast alle unbekannt und denkbar schwierig. Der Kirche wird zugemutet, sich nun wirklich und ausschließlich auf die beiden Größen zu beziehen, die ihr das Konzil als erste Bezugspunkte auf die Fahnen geschrieben hat: Gott und die Menschen. Das könnte der rote Faden sein, mit dem Sie Ihre eigene kirchliche Arbeit bestimmen können. Cui bono? Wem dient es? Es ist Ihre pastorale Aufgabe, dies nun konkret werden zu lassen. Es kommt nicht darauf an, welche Kirche wir „früher“ gewesen sind. Es kommt auch nicht darauf an, welche Kirche wir gerne haben wollen. Es kommt darauf an, welche Kirche wir jetzt sind. Ich bin mir gewiss, dass Gott bereits bei und mit den Menschen ist. Unklar ist, in welchem Maß es der Kirche gelingt – trotz und gerade in Zeiten von „Social Distance“ –, bei und mit den Menschen zu sein. 
letzte Änderung: 30.03.2020